Was war der Ausgangspunkt dieser Geschichte über ein so genanntes Wunderkind?
Fredi M. Murer: Es war der Satz eines Philosophen, dass Kinder nicht den Eltern gehören, sondern sich selbst, und dass in jedem Kind ein Universum schlummert, das sich entfalten, aber auch eingeengt werden kann. Ich wollte etwas erzählen, das sich ein wenig von diesem sonst so schweren schweizerischen Boden abhebt, und etwas Märchenhaftes und Fantasievolles in die fiktive Handlung bringen. Für mich ging es um ein Kind, das mit einer genetischen Konstellation zur Welt gekommen ist, durch die es sich bereits mit zwölf Jahren das Wissen eines gebildeten Erwachsenen aneignen konnte, aber emotional dennoch ein ganz normales Kind ist. Dann habe ich versucht, Vitus in eine relativ durchschnittliche familiäre, schulische und gesellschaftliche Situation einzubinden, und mir überlegt, was mit so einem Jungen passiert.
Was war das Besondere an Hauptdarsteller Teo Gherghiu?
Fredi M. Murer: Auf einen Tipp hin nahm ich Kontakt auf nach London, wo es eine Schule für musikalisch hochbegabte Kinder gibt. Und dann hatte ich Glück: Teo war elf Jahre alt und auch noch in Zürich aufgewachsen, hatte einen kanadischen Pass, rumänischstämmige Eltern und spricht schweizerdeutsch, französisch, englisch und rumänisch. Er hat schon mit zwei Jahren Schach statt Lego gespielt und mit drei Jahren zu lesen begonnen. Teo bewegt sich an der Genialitätsgrenze, spielt überdurchschnittlich gut Klavier. Die Probeaufnahmen überzeugten mich von seinem riesigen schauspielerischen Potenzial und der Junge hat sich auch sofort wohl gefühlt. Wir mussten ihn drei Monate aus der Schule nehmen, unter der Bedingung, dass er mindestens zwei Stunden am Tag Piano üben kann und seine Hausaufgaben per E-Mail macht.
Wie arbeitet man mit einem solchen Kind?
Fredi M. Murer: Kinder bringen eine große Authentizität ein, weil sie nicht im klassischen Sinne Schauspieler sind. Wenn man eine Geschichte mit einem Kind in der Hauptrolle schreibt, muss man wissen, dass sie mit der Besetzung steht und fällt. Ich habe mit den beiden Buben, die Vitus in unterschiedlichen Altersstufen verkörpern, die optimale Besetzung gefunden, trotz der Erschwernis, dass sie sich ähnlich sehen mussten. Im Fall von Teo faszinierte mich die intellektuelle Reife. Er spielte Konzerte, gewann Musikpreise, liest täglich die Zeitung, ist ein totaler Sportfan, speziell was Fußball betrifft, und man kann mit ihm über amerikanische und europäische Politik reden. Er ist ein intellektuell und emotional weiter entwickeltes Kind als Gleichaltrige. Bruno Ganz kümmerte sich übrigens voller Hingebung um die beiden Jungen.
Wie haben Sie die Figur des Großvaters konzipiert?
Fredi M. Murer: Ich wusste schon beim ersten Exposé, dass Bruno Ganz den Großvater spielen sollte, und hatte bei dieser Figur immer nur ihn vor Augen. Ich schickte ihm zwei, drei Fassungen zum Lesen. Nach Beendigung des Drehbuchs haben wir lange über die Sprache und seinen Umgang mit der Figur gesprochen. Etwas steckt auch von meinem verstorbenen Vater in der Figur, einem Schreiner und Alltagsphilosophen. Zum Beispiel stammt der Satz "manchmal muss man einen Baum fällen, um die Früchte zu retten" von ihm. Insofern ist Vitus auch eine Hommage an meinen Vater. Die andere Figur, die mit hineinspielt, ist mein Lieblingsautor Robert Walser - schon von der äußeren Erscheinung her. Ich habe Bruno sehr viel freie Hand gelassen, er hat sich wahnsinnig viel Zeit genommen und ich möchte diese tiefe Zusammenarbeit nicht missen.
Verlieren wir nicht mit zunehmendem Alter unser Träume und die Unschuld der Kindheit?
Fredi M. Murer: Unsere Flügel werden irgendwann beschnitten. Als Kind träumt man davon, Astronaut oder Pilot zu sein, alles ist offen. Für mich ist jedes Kind ein Wunderkind. Durch die Umstände, in die wir hineingeboren werden, werden unsere Fähigkeiten gefördert oder vernichtet, manchmal auch "nur" verschüttet, und wir entdecken als Erwachsene unsere Möglichkeiten neu. Jeder Mensch trägt eine Kindheit in sich und jedes Kind führt ein "Doppelleben", das in seiner Fantasie und das der Wirklichkeit angepasste. So gesehen halte ich Kindheit für die fantastischste, gefährlichste, fragilste und verrückteste Lebensphase, und natürlich die am meisten prägende. Kindheit ist der Humus, aus dem alles erwächst. Es ist kein Zufall, dass ich mit meinen 65 Jahren einen solchen Erinnerungsfilm drehe.
Sie erwähnten bereits die Anspielungen auf ihren Vater. Inwiefern hat der Film autobiografische Züge?
Fredi M. Murer: Der Film enthält sehr viele Gefühlserinnerungen, teilweise auch autobiografische Elemente. Ich habe mal mit zehn Jahren mit einem Freund einen Hängegleiter gebastelt und durfte per Los als erster abheben; nach 15 Metern landete ich unsanft mit Schädelbruch auf dem Boden. Fünf Tage lag ich bewusstlos im Spital und als ich zu mir kam, hörte ich, wie die Ärzte sagten, dass man mich schonen müsse. Das habe ich schamlos ausgenützt und mich in der Schule immer mit dem Hinweis auf Kopfschmerzen aus der Affäre gezogen. Auch Vitus benützt ja diesen Kniff und führt sämtliche Änderungen in seinem Verhalten auf den Unfall zurück. Durch die List mit dem Unfall schafft er sich einen Freiraum. Widerstand motiviert immer, den eigenen Weg einzuschlagen und
Vitus ist ja auch das Porträt eines Künstlers. Der letzte Satz im Film stammt vom Großvater: "Vitus, folge deinem Stern." Das heißt, folge deiner inneren Stimme, deiner Berufung, und steht insofern auch als Parabel für eine autonome Biografie.