Hintergrund
Berlinale 2007: Die Filme der Generation 14plus
Der Weg ins Erwachsenenleben
Elf aktuelle Beiträge aus dem Produktionsjahr 2006 und aus allen Teilen der Welt stehen im Wettbewerb 2007 von Generation 14plus. Sie thematisieren auf verschiedene Weise den oftmals schwierigen Weg ins Erwachsenenleben, der trotz kultureller und gesellschaftlicher Unterschiede zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweist.
Große Bandbreite der ausgewählten Produktionen
Einige dieser Filme blicken zurück in die Vergangenheit wie
The Way I Spent the End of the World (Cum mi-am petrecut-sfârşitul lumi; R: Catalin Mitulescu; Rumänien, Frankreich) über die letzten Tage des Ceaucescu-Regimes in Rumänien aus der Perspektive einiger gegen die täglichen Repressalien mutig Widerstand leistenden Jugendlichen. Andere wagen sogar einen utopischen Blick in die nahe Zukunft wie der rasant geschnittene Anime
Tekkonkinkreet über den brutalen Überlebenskampf der Jungen Black und White in einer japanischen Megacity. Eigentlich ist es eine Person in zwei Körpern, die hier den Kampf für ein selbst bestimmtes Leben und gegen jene Erwachsenen aufnimmt, die durch den Bau eines gigantischen Vergnügungsparks die Menschen versklaven und verdummen wollen. So überzeichnet dieser von dem US-Amerikaner Michael Arias in Japan produzierte Anime auch ist, er bezieht sich unverkennbar auf gegenwärtige Zeitströmungen und Gefühlslagen von Jugendlichen: die Auflösung von traditionellen Strukturen, die Wut gegen diejenigen, die für den eigenen Profit die Zerstörung einer gewachsenen Lebensumwelt billigend in Kauf nehmen und der Versuch, sich gegen diese Entwicklungen zur Wehr zu setzen.
Unterschiedlich wie die einzelnen Geschichten sind auch ihre ästhetischen und dramaturgischen Umsetzungen. Nicht alle diese Filme sind für den Einsatz im Unterricht gleichermaßen gut geeignet, aber sehenswert sind sie allemal.
Lektion im Filmemachen
Nur ganz selten lassen sich aus einer im Spielfilm erzählten Geschichte unmittelbare Informationen über das Filmemachen und die Produktionsabläufe von der Recherche über das Drehbuch bis zur Finanzierung und den Dreharbeiten ableiten.
Man in the Chair (R: Michael Schroeder; USA) ist so ein seltener Glücksfall und der englische Titel verweist bereits auf die Person, die dabei alles im Blick haben muss und im Regiestuhl sitzt. Obendrein versucht der Film eine Brücke zwischen Alt und Jung zu schlagen, indem sich ein Jugendlicher die Erfahrungen alter Menschen zunutze macht, die bereits ins Altenheim – das in diesem Fall ehemaligen Filmschaffenden vorbehalten ist – abgeschoben wurden. Manche von ihnen sitzen bereits im Rollstuhl – woraus sich die zweite Bedeutungsebene des Titels erschließt.
Bei der Filmvorführung von Hollywoodklassikern lernen sich der rebellische junge Cameron, der davon träumt, Filmemacher zu werden und der mürrische alte Flash, letztes noch lebendes Crewmitglied von Orson Welles’ Citizen Kane kennen. Nur mit großer Überredungskunst und ein paar dicken Zigarren kann Cameron den Veteran überreden, ihm bei einem Kurzfilm zur Seite zu stehen und ihm das Filmhandwerk beizubringen. Nach und nach reaktivieren die beiden auch die anderen Senioren/innen und Cameron entschließt sich, statt eines unbedarften Skaterfilms einen Film über die desolaten und menschenunwürdigen Zustände in Altersheimen zu drehen. Als Fortbildung in Filmpädagogik für Lehrer/innen geradezu ein Juwel, bleibt abzuwarten, ob die mitunter etwas langatmig geratene Geschichte auch jene Jugendlichen fesseln kann, die Camerons Berufswunsch nicht teilen.
Träume und fremde Lebenswelten
In dem brasilianischen Film
Antônia (R: Tata Amaral; Brasilien) versuchen vier junge Frauen sich ihren Lebenstraum zu erfüllen. Sie gründen eine eigene Band und nennen sie Antônia nach einem Märchen, in dem ein Mädchen mit ihrer Stimme erfolgreich gegen das Böse in der Welt ansingt. Doch der Alltag in den Slums von São Paulo ist hart; Gewalt, Armut und der Chauvinismus der Männer fordern ihren Tribut. Ein beeindruckender Film, der das Lebensgefühl vier junger Frauen vor allem über die Musik vermittelt.
Vor dem Hintergrund des rigiden indischen Kastensystems spielt
Vanaja (R: Rajnesh Domalpalli; Indien, USA). Die 14-jährige Vanaja, Tochter eines armen Fischers, träumt davon, eine berühmte Kuchipudi-Tänzerin zu werden. Sie hat Glück, denn eine Gutsbesitzerin nimmt sie als Dienstmagd auf und weiht sie in die Kunst des Tanzes ein. Alle ihre Träume zerplatzen, als der Sohn der Hausherrin sie vergewaltigt und schwängert. Er zeigt zwar Reue, ist aber nicht bereit, um des Babys willen eine unstandesgemäße Beziehung mit ihr einzugehen. Als Vanaja ihn öffentlich bloßstellt und damit gegen die Regeln des Kastensystems verstößt, verbaut sie sich jegliche Zukunft in diesem Haus.
Nicht minder eindringlich gespielt ist
Like a Virgin (Cheonhajangsa Madonna; R: Lee Hae-young/Lee Hae-jun; Republik Korea). Der kräftig gebaute Schüler Dong-gu hat nur den einen Wunsch, endlich ein Mädchen zu werden und als Sängerin zu arbeiten. Für seinen Traum nimmt der Junge allen Spott auf sich und erträgt jede Demütigung. Um die Operation für die Geschlechtsumwandlung finanzieren zu können, absolviert er zunächst eine Ausbildung als Ssireum-Ringer, eine traditionelle koreanische Männersportart, in der es auf Kraft und Geschicklichkeit ankommt. Sollte es ihm gelingen, seine Konkurrenten im Wettkampf zu besiegen, winkt ihm das Preisgeld, das er für seine Operation benötigt. Wie kaum ein anderer Beitrag in 14plus schafft es dieser humorvoll inszenierte Film über ein Tabuthema, jungen Menschen Mut zu machen, auf die eigenen Fertigkeiten zu vertrauen und über alle Widerstände hinweg das eigene Ziel nie aus den Augen zu verlieren.
Zerplatzte Träume oder: Die Abrechnung mit der Vergangenheit
Einfach nur weg möchte dagegen der zwölfjährige Shaun, nachdem sein Vater im Falkland-Krieg gefallen ist.
This is England (R: Shane Meadows; Großbritannien) ist im England des Jahres 1983 angesiedelt. In einer Gruppe älterer, unpolitischer Skinheads aus seinem Heimatort, die ihn mit ihrer coolen Art beeindrucken, findet er den Trost und die Anerkennung, die ihm auch die berufstätige Mutter nicht bieten kann. Ein Teil der Gruppe beginnt sich zu radikalisieren, als sie unter den Einfluss des frisch aus dem Gefängnis entlassenen Skinheads Combo gerät, einem Rassisten, der sie zu Übergriffen gegenüber Ausländern ermutigt. Shaun ist an vorderster Front dabei, denn er sieht Combo als eine Art Ersatzvater und erkennt erst dessen wahren Charakter, als es zu einer blutigen Eskalation von Gewalt kommt. Ganz im dokumentarischen Stil eines britischen Sozialdramas inszeniert, ruft der Regisseur das politische Klima der Regierung von Margaret Thatcher in Erinnerung, in dem sich die Skinhead-Szene zu politisieren begann.
Sweet Mud (Adama Meshuga’at; R: Dror Shaul; Israel, Deutschland, Frankreich, Japan) thematisiert anhand der in den 1970er-Jahren angesiedelten dramatischen Geschichte einer Mutter und ihrer beiden Söhne dramaturgisch dicht und visuell bestechend den utopischen Traum von Gleichheit und Gemeinschaft am Beispiel der israelischen Kibbuz-Bewegung. Der Film zeigt das Scheitern dieses Anspruchs durch Egoismus, Machtmissbrauch und Feigheit. Ganz aus der Perspektive des zwölfjährigen Dvir erzählt, bleibt die Kamera in diesem psychologischen Drama hautnah am unaufhaltsamen Niedergang einer Familie, die den Ausbruchsversuch aus dem einst verheißenen Paradies mit dem Leben oder mit psychischer Erkrankung bezahlt. Nur Dvir gelingt es eines Tages, zusammen mit einem gleichaltrigen Mädchen die Flucht zu ergreifen. Dieser Film ist so packend erzählt, dass einem buchstäblich die Luft wegbleibt.
Autor/in: Holger Twele, 06.02.2007
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