Hintergrund
Der 11. September und die Bilder
Auf dem Weg zum Mythos
Die Terroranschläge vom 11. September 2001 waren in vielfacher Hinsicht Medienereignisse. Außer den Opfern und direkten Augenzeugen in New York, Washington und auf dem Flug 93 von Newark nach San Francisco haben Milliarden von Menschen die Katastrophen als Fernseh- und Rundfunkprogramme erlebt. Viele "live", doch ohne Einsatz ihres Lebens. Manche auch zeitversetzt als Wiederholungen der Programme, Zeitungsgeschichten oder Erzählungen anderer Medienkonsumenten. Was die Menschen wissen über den 11. September (das Datum steht längst synonym für die Ereignisse), wissen sie durch Medien. Der unvermittelten sinnlichen Erfahrung ist das Geschehen entzogen.
Wie die Wirklichkeit das Kino imitiert
Das Phänomen der Wirklichkeitskonstruktion durch Medien entwickelte sich ebenfalls zu einem Medienereignis, als es von so genannten Fachleuten diskutiert und reflektiert wurde – wiederum medial: in Fernseh-Talks, Rundfunk-Runden, Zeitungsartikeln und Internet-Chats. Es ging dabei hauptsächlich um das, was Wirklichkeit ist oder was als Wirklichkeit erfahren und vereinbart wird. Oft genug löste sich in diesem Diskurs die Realität der Anschläge verbal auf. Sie wurden lediglich als "Bilder" diskutiert und häufig als bloße Nachahmungen der Wiederholungen von Kinobildern behauptet, die längst die Köpfe besetzt hielten. Brennende Hochhäuser (Flammendes Inferno), abstürzende Flugzeuge (in zahllosen Airport-Filmen), zerpulverte Symbolbauten (Independence Day) schienen die Attentate vom 11. September vorweggenommen und sie dann in einer Art "selbsterfüllender Prophezeiung" realisiert zu haben nach dem Motto: Wie doch die Wirklichkeit das Kino nachahmt!
Die Erinnerung wird konstruiert
Die Diskussion postmoderner Philosophen wie Jean Baudrillard um das Verschwinden der einen Wirklichkeit in vielen virtuellen Realitäten kam hier zu ihrem späten Höhepunkt. Klaus Theweleit hat die Floskelhaftigkeit der "schnellen" Essays zum 11. September in seinem Buch "Der Knall" inzwischen erbarmungslos aufgedeckt. Der 11. September ist Fall und Fakt und real. Viel interessanter ist, was in einer dritten Medien-Runde aus dem Datum gemacht wird. Jetzt geht es um die Verwandlung von Fakten in Mythen, von Ereignissen in Erzählungen, von Realitäten in Symbole. Jetzt werden die Bilder der kollektiven Erinnerung konstruiert, die in Zukunft für den 11. September stehen werden. Die ersten Bücher, die ersten Comics und der erste Film zu den Ereignissen haben daran ihren Anteil.
Das Pentagon verschwindet
Am auffälligsten ist die Konzentration und Reduktion des Dreiklangs der Terroranschläge auf die Zerstörung des World Trade Centers. Bereits 2002, nur ein Jahr später, ist kaum noch vom Angriff auf das Pentagon als verteidigungspolitischer Machtzentrale oder vom abgestürzten Flug 93 die Rede, wenn es um den 11. September geht. Das liegt an der Macht der Bilder, die von diesen beiden Schauplätzen fehlen. Vom Pentagon werden sie wohl aus politischen Gründen zurückgehalten; deswegen geraten die 800 Toten dort in Vergessenheit.
Das World Trade Center als Ikone
Dafür ist das brennende World Trade Center bereits zur Ikone des 11. September geworden. Der Moment vor dem Einschlag des zweiten Flugzeugs gefriert zum Erinnerungsbild für spätere Zeiten, immer wieder abrufbar als Symbol, als Klischee, auf dem Weg zur Touristen-Devotionalie. Die ebenfalls spektakulären Bilder der einstürzenden Twin Towers eignen sich nicht zur Ikone, weil sie ihre Wirkung erst im Zeitablauf entfalten. Symbolische Kraft aber hat nur der festgehaltene Augenblick. Deshalb haben auch die erschütterndsten Bilder des 11. September keine Chance: die Aufnahmen der Menschen, die zwischen zwei Todesarten wählten, aus den Fenstern sprangen und der Katastrophe so den Schrecken der sichtbaren Vernichtung von Individuen einschrieben.
Individualisierung und Personalisierung
Die Katastrophe als Drama
Der Nutzung dieser Katastrophe als Stoffvorlage wird kein einziges moralisches Argument entgegen stehen. Bisher ist noch jede Katastrophe der Menschheit zum Roman geworden und nach dem Roman zum Drama, Gemälde oder zum Film. Das beginnt bei der Sintflut, setzt sich über die letzten Tage von Pompeji fort bis zum Untergang der Titanic. Katastrophen bilden den Stoff für große Erzählungen. Sie haben eine Aura der Faszination. Dass viele Menschen berichten, sie seien geradezu süchtig nach den Bildern des 11. September geworden und dass die Medien diese Sucht mit immer neuen Wiederholungen derselben Bilder befriedigten, hat nicht nur mit der Unfassbarkeit des Geschehens zu tun.
Fassungslose Superhelden
Ein Medium, das besonders schnell an die Umsetzung der Fakten in Erzählungen gegangen ist, war der amerikanische Comic Strips. Das mag damit zusammenhängen, dass amerikanische Comic-Leser eigentlich daran gewöhnt sind, von Superhelden vor Katastrophen bewahrt zu werden. Irritierte und trauernde Heroen spielen tatsächlich Hauptrollen in vielen Geschichten. In einer Story erklärt ein Cartoonist, welche Aufgaben die Comics jetzt haben: "Wir helfen unserem Land, mit Tragödien wie dieser fertig zu werden. Wir regen die Leute zum Denken an, wir helfen ihnen, dass sie wieder lachen können. Oder vielleicht geben wir ihnen auch nur die Möglichkeit, sich für eine kleine Weile abzulenken." Es geht um Eskapismus. Doch viele Comic-Geschichten über den 11. September betreiben auch Propaganda für die Unterstützung der militärischen Reaktion Amerikas und die Heilung des Schocks durch Patriotismus.
"here is new york"
In zahllosen Comic-Bildern ist die Ikonisierung der brennenden Twin Towers bereits eingetreten. So ordnen und sortieren die Medien den rohen Stoff der Katastrophe. Die Fotografen der ersten New Yorker Schreckens-Stunden waren aufgefordert, Bilder für eine Ausstellung einzusenden. Sie bekam den Titel "here is new york" und bemüht sich um "die Demokratie der Bilder". Denn aus jeder Einsendung – egal ob von einem Profi oder einem Amateur – wird wenigstens ein Foto gezeigt, anonym, ungerahmt, sachlich. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat die Ausstellung nach Deutschland geholt: ein Mosaik aus vielen Ansichten – nicht Wirklichkeiten! – der Katastrophe mit ihren Gesichtern, Emotionen, Informationen. So wird sie anschaulich, ästhetisch in der Aura einer schrecklichen Schönheit.
Die Verweigerung der Bilder
Die Alternative zur Bild-Werdung des 11. September ist die Bildverweigerung. Der mexikanische Regisseur Alejandro Gonzáles Inárritu greift zu diesem Mittel mitten in der Bilderflut des Films
11'09''01; in seiner Episode bleibt die Leinwand überwiegend schwarz. Damit setzt er die Selbstverständlichkeit außer Kraft, mit der das Datum inzwischen als Medien-Event konsumiert wird. Es wird wieder frei für Fragen, Diskussionen, Perspektiven. Die bereits entstehende Selbstgewissheit des medialen Mythos vom 11. September wird noch einmal erschüttert. Die wichtigste Lehre aus dem Tag des Terrors erscheint unter den sich anhäufenden Schuttmassen des Spektakels: Es ist notwendig, zu begreifen, was da geschehen ist und warum es geschah.
Zur Ausstellung:
www.bpb.de www.hereisnewyork.org
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 02.12.2002
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