Hintergrund
John Rabe und der Streit um die Vergangenheit
In älteren deutschsprachigen Büchern zur Geschichte Ostasiens im 20. Jahrhundert taucht sein Name noch gar nicht auf, in China aber kennt jedes Schulkind "Yuehan Labei", so der chinesische Name von John Heinrich Detlev Rabe. Er wird verehrt als Retter von über 250.000 Chinesinnen und Chinesen – Zivilisten/innen und führungslosen Soldaten –, denen er in Zeiten bestialischer Grausamkeit einen Zufluchtsort bot.
Krieg zwischen China und Japan
China 1937: Schon seit sechs Jahren hat das japanische Kaiserreich in der rohstoffreichen Mandschurei einen Marionettenstaat errichtet, dessen Regent, "Chinas letzter Kaiser" Puyi, jedoch über keinerlei Entscheidungsgewalt verfügt. Als Teil der japanischen Großmachtstrategie in ganz Asien versuchen Nippons Truppen nun, China vom Norden her zu erobern. Den Einmarsch im Juli 1937 werten viele Historiker/innen als eigentlichen Beginn des Zweiten Weltkriegs in Asien. Japan machte Druck, denn es hatte den Anschein, als könnte es der in der alten Hauptstadt Nanjing (Nanking) residierenden chinesischen Regierung unter dem Republikaner-General Chiang Kai-schek gelingen, Mittel- und Südchina politisch und militärisch wieder stärker zusammen zu schließen. Nach dem Angriff auf Schanghai rückte die japanische Armee weiter den Yangtse hinauf. Schon im August warfen Flugzeuge Bomben auf Nanjing. Die traditionsreiche "Südliche Hauptstadt" fiel am 13. Dezember, nachdem die gescheiterte chinesische Regierung, das Militärkommando und die Oberschicht sich längst weiter landeinwärts in die Kriegshauptstadt Chongqing zurückgezogen hatten.
Das Massaker von Nanjing
Das Massaker, das in den etwa sechs Wochen nach der Einnahme Nanjings durch japanische Truppen folgte, war ein wahrer Blutrausch. Nach chinesischer Zählung fielen ihm 300.000 Menschen zum Opfer – Soldaten und Zivilisten/innen, die erschossen, vergewaltigt und getötet wurden, einfache Menschen, die bei lebendigem Leibe verbrannt oder wie zum sportlichen Vergnügen dahingemetzelt wurden. Das Massaker von Nanjing wird von chinesischen und den meisten westlichen Historikern/innen als das größte Kriegsverbrechen Japans im Zweiten Weltkrieg angesehen, auch wenn die Zahl der Toten nie genau ermittelbar sein wird.
Einrichtung einer Sicherheitszone
1936 war zwischen dem Deutschen Reich und dem Japanischen Kaiserreich ein völkerrechtlicher Vertrag zur Abwehr der Kommunistischen Internationalen (Komintern) geschlossen worden. Geschützt von diesem Bündnis, gehörte John Rabe zu den wenigen Ausländern, die in der gefallenen Stadt blieben. Er beschrieb die Gräuel, die die Armee des Tennō (japanischer Kaiser) verübte, nicht nur in seinem Tagebuch, sondern er half auch, wo und wie er konnte. Der 1882 geborene Hamburger Kapitänssohn lebte schon seit 1908 in China; er war dort als Handelsvertreter, zuletzt als Chef-Repräsentant für Siemens tätig. Rabe beherrschte nur wenige Sätze auf Chinesisch, Englisch konnte er dagegen perfekt. Trotzdem begriff er die Chinesen/innen in ihrer Not und fühlte sich für seine Angestellten, deren Familien und Nachbarn/innen verantwortlich. Aus Mitgefühl und einer Art "hanseatischem Pflichtbewusstsein" heraus brachte er schon im November 1937 ein paar mutige Amerikaner/innen und Europäer/innen dazu, unter seiner Leitung eine Sicherheitszone Nanjing einzurichten: vier Quadratkilometer, die unter dem Schutz des internationalen Komitees standen und die für eine Viertel Million Chinesen/innen die Rettung bedeuteten.
Haus und Hof als Schutzräume
Als die japanischen Soldaten überall in der Stadt mordeten und brandschatzten, öffnete der Deutsche auch sein eigenes Haus samt Garten für die verzweifelten Menschen. "Im Süden steht der ganze Himmel in Flammen. Die beiden Unterstände bei mir im Garten sind bis zum Rand mit Flüchtlingen gefüllt. Es pocht an beiden Haustoren – Frauen und Kinder bitten flehentlich um Einlass [...] Da ich das Jammern nicht mehr mit anhören kann, lasse ich alles hinein, was hinein will", zitierte Rabe im März 1938 im Ostasiatischen Beobachter aus seinem Tagebuch (nach: Mechthild Leutner, Deutschland und China 1937-1949). Rabe beherbergte am Ende etwa 650 Menschen auf seinem 500 Quadratmeter großen Grundstück.
Nationalsozialist und Humanist
Geholfen hat dem Deutschen paradoxer Weise seine NSDAP-Zugehörigkeit, ja, sie hat seine Rettungsaktion überhaupt erst möglich gemacht. Der humanistisch gesinnte Kaufmann Rabe war seit seinem Eintritt in die Partei Hitlers 1934 ein Nationalsozialist und kurzfristig sogar Vertreter des Nanjinger Ortsgruppenführers Lautenschlager. Rabe, ein großer, kräftiger Mann mit Glatze, verehrte Adolf Hitler und hielt ihn – 1937, also noch vor den Novemberpogromen der so genannten Kristallnacht im darauf folgenden Jahr und vor dem Überfall auf Polen – für einen guten Führer der Arbeiter/innen und kleinen Leute. John Rabe, Diabetiker, Vater von zwei Kindern, war ein überzeugtes, aber auch pragmatisches Parteimitglied, das sich allerdings aus der Ferne über die tatsächlichen Ziele des Nationalsozialismus täuschte. So, wie ihm seine Parteizugehörigkeit anfänglich geholfen hatte, Mittel für eine Schule zu beschaffen, benutzte er auch die Insignien des "Dritten Reiches", sich genügend Respekt zu verschaffen, um den mordenden Soldaten der mit Deutschland verbundenen Achsenmacht Japan Einhalt zu gebieten. Aufgrund des japanisch-deutschen Bündnisses verschaffte ihm sein Parteiabzeichen und die Hakenkreuzbinde in Nanjing mehr Respekt als er den anderen Ausländern, vorrangig Amerikanern/innen, entgegen gebracht wurde, auch bei den Verhandlungen über die Anerkennung der Sicherheitszone. Die "horizontal ausgerollte große deutsche Flagge" zeigte den japanischen Bombern an, wo sie abdrehen mussten; sie war ein Schutzschild für Tausende chinesische Flüchtlinge.
Spätes Gedenken in Deutschland
Nach seiner Rückberufung nach Deutschland hatte John Rabe als Parteigenosse kein Glück; im Gegenteil trugen ihm seine Berichte über den Terror der japanischen Armee und seine illusionären Versuche, Hitler persönlich davon in Kenntnis zu setzen, einige Tage Haft in den Gefängnissen der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) ein. Siemens betrieb seine Freilassung, aber die Karriere war ruiniert. 1950 starb der "Oskar Schindler von China", verarmt und unbeachtet. Seiner Enkelin Ursula Reinhardt, die sich zur Herausgabe der Tagebücher überreden ließ, und dem ehemaligen China-Botschafter Erwin Wickert ist es zu verdanken, dass sein Wirken als Schutzengel nicht vergessen blieb. 1997 gab Wickert die Chronik unter dem Titel John Rabe. Der gute Deutsche von Nanking heraus. Im kollektiven Gedächtnis der Chinesen/innen hat John Rabe einen festen Platz – und seit 2006 auch einen konkreten Ort. Sein ehemaliges Wohnhaus in Nanjing wurde mit Unterstützung von Siemens und der Bundesrepublik Deutschland zum Museum umgestaltet. In der Opfer-Gedenkstätte von Nanjing steht ein Rabe-Denkmal, sein Grabstein wurde von Berlin in die Stadt am Yangtse überführt.
Eine historische Bürde
In seiner historischen Einordnung bleibt das Massaker der zentrale Konfliktstoff zwischen Japan und China. Von japanischen Politikern/innen und Behörden werden die Gewaltexzesse der kaiserlichen Soldaten zwar nicht geleugnet, aber immer wieder als "Zwischenfall" verharmlost. Das Dreiecksverhältnis Tokio, Nanjing, Berlin wird auch nach mehr als siebzig Jahren noch mit Bedeutung aufgeladen: Chinesische Politiker/innen und Historiker/innen weisen immer wieder darauf hin, dass Japan – anders als Deutschland – seine Verbrechen nie wirklich anerkannt und gesühnt hat. Ihr japanisches Gegenüber sieht in diesem Streit um die Vergangenheit vor allem den Versuch Chinas, eine Schuld innerhalb der asiatischen Machtbalance zu eigenen Gunsten moralisch zu instrumentalisieren.
Autor/in: Sabine Peschel ist Sinologin und arbeitet als Redakteurin der Deutschen Welle in Bonn, 26.03.2009
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