Valentin Thurn, Jahrgang 1963, ist Autor und Regisseur von mehr als 40 Fernsehdokumentationen und hat zahlreiche Hörspielfeatures, Zeitschriftenbeiträge sowie zwei Sachbücher verfasst. Die inhaltlichen Schwerpunkte seiner Arbeit bilden soziale, entwicklungs- und umweltpolitische Themen. Der engagierte Journalist gründete 1993 mit Kolleginnen und Kollegen aus über 50 Ländern die International Federation of Environmental Journalists. Valentin Thurns Dokumentarfilme wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem war er für seine Reportage
Ich bin Al Kaida im Jahr 2006 für den Deutschen Fernsehpreis nominiert.
Was war Auslöser für die Idee, einen Film über das Thema Nahrungsmittelmüll zu machen?
Ich habe 2008 eine Fernsehreportage über Freegans, Mülltaucher, gemacht. Das hat mir die Augen geöffnet. Ich konnte nicht glauben, welche Mengen an hygienisch einwandfreiem Essen in den Abfallcontainern landen. Dann habe ich festgestellt, dass man dieses Thema in Deutschland noch gar nicht im Blick hatte. Aber in Österreich und England tobte die Debatte schon, hier gab es auch Studien, die die Größenordnung belegten. Etwa die Hälfte aller Nahrungsmittel wird in den Industrieländern weggeworfen, das meiste, bevor es überhaupt den Endverbraucher erreicht.
Wo liegt die Hauptverantwortung?
Es gibt nicht einen Bösen oder Verantwortlichen. Es ist ein großes zusammenhängendes System, das schon bei den Agrarnormen anfängt. Für die zwölf wichtigsten Produkte, die 75 Prozent des Handelsvolumens ausmachen, gelten EU-Normen. Bei einem Boskoop-Apfel beispielsweise müssen 33 Prozent der Haut rot sein. Bananen müssen eine bestimmte Krümmung, Größe, Mindestanzahl von Früchten an einer Staude haben – das sind in erster Linie kosmetische Vorschriften, die nichts mit der geschmacklichen Qualität zu tun haben.
Welchen Sinn haben dann diese Handelsnormen?
Verkäufer und Käufer sind weit voneinander entfernt und eine Norm liefert eine klare Beschreibung des Produkts. Doch es ist gefährlich, Nahrungsmittel nur als Ware zu betrachten. Wenn wir Lebensmittel dem freien Marktgeschehen aussetzen, zerstören wir unsere Lebensgrundlagen. Der Markt kann in diesem Fall nicht alles regeln, denn die Ressourcen unseres Planeten sind begrenzt. Aber langsam ändert sich politisch etwas. In diesem Jahr hat die WHO angesichts der anwachsenden Weltbevölkerung erstmals darüber nachgedacht, effizienter zu wirtschaften und weniger wegzuwerfen anstatt die Produktion zu steigern. Der Gedanke ist tatsächlich bei der UNO angekommen, aber es ist alles noch am Anfang.
Sie haben parallel zum gleichen Thema die Reportage Frisch auf den Müll gedreht. Was unterscheidet die Kino- von der Fernsehdokumentation?
Taste The Waste ist visuell komplett anders. In die Fernsehreportage sind mehr Informationen gepackt, es gibt einen Kommentarsprecher. Im Kinofilm haben wir unsere Geschichten weniger mit Worten, sondern mit Bildern erzählt. Wir haben erst überlegt, ob wir einen Hauptprotagonisten, der uns durch den Film führt, oder einen Off-Kommentar verwenden wollen. Aber dann haben wir festgestellt, dass wir eigentlich schon einen Hauptprotagonisten haben: das Essen. Das war insofern gewagt, weil die emotionale Bindung nicht über eine Person erfolgt, sondern über die Lebensmittel. Aber es hat funktioniert.
Sie beschäftigen sich sehr engagiert mit kritischen Themen wie Kinderarmut, illegale Migration oder eben Lebensmittelmüll. Können Dokumentarfilme denn politisch oder gesellschaftlich etwas verändern?
Ich denke schon. Bereits wenige Tage nach der Fernsehausstrahlung von
Frisch auf den Müll hat sich das nordrhein-westfälische Verbraucherschutzministerium gemeldet, um eine Aktion gegen Lebensmittelverschwendung ins Leben zu rufen, einige Wochen später die Bundesverbraucherministerin, die jetzt eine Studie in Auftrag gegeben hat. Und ich glaube, dass der Kinofilm noch größere Strahlkraft hat als der Fernsehfilm. Kino ist ein sehr viel emotionaleres Erlebnis. Das ist wichtig. Es geht ja letztlich um unseren Konsumstil, um die Art und Weise, wie wir essen oder einkaufen. Über den erhobenen Zeigefinger oder den Kopf wird sich da nichts ändern. Doch wenn man angeregt wird, sich über die Wertigkeit der Lebensmittel Gedanken zu machen, kann man lernen, was schmeckt, und orientiert sich nicht nur an Äußerlichkeiten. Wenn man es als persönlichen Gewinn begreift, ist man sehr viel schneller bereit, Gewohnheiten zu ändern.
Taste The Waste wurde in der Reihe Kulinarisches Kino der diesjährigen Berlinale vor jugendlichem Publikum uraufgeführt. Wie war die Resonanz?
Nach dem Film hat ein Sternekoch mit Schülern aus Lebensmitteln, die eigentlich zur Vernichtung gedacht waren, ein Menü zubereitet. Das kam alles sehr gut an, die Diskussion musste schließlich abgebrochen werden, so viel hatten sie zu sagen und zu fragen. Das ist auch die Kraft, die Kinder und Jugendliche mitbringen: Sie arrangieren sich nicht einfach mit den Dingen, sie wollen sie ändern. Mir war es wichtig, dass ich diesen Impuls bei einem der wichtigsten Themen unserer Zeit auslösen konnte.