Kategorie: Hintergrund
Das menschliche Gesicht des Krieges? Archivbilder im digitalen Wandel
"They Shall Not Grow Old" zeigt den Ersten Weltkrieg in Farbe, 3D und mit einer Soundkulisse. Wie historisches Bildmaterial heute digital bearbeitet wird und warum man hier eigentlich nicht von "Restauration" sprechen kann – eine Einordnung.
Die Presseankündigung zu Peter Jacksons Zum Filmarchiv: "They Shall Not Grow Old" (GB/NZ 2018) verspricht viel: "Jackson schuf ein [...] authentisches Kinoerlebnis, indem er historisches Filmmaterial [...] restaurierte, kolorierte und mithilfe von 3D-Technologie konvertierte. [...] Die Restauration des originalen Filmmaterials [...] lässt das menschliche Gesicht des Ersten Weltkriegs [...] zum Vorschein kommen." Diese Wortwahl ist äußerst kritisch zu betrachten. Das Label "Restauration" vermittelt, man würde hier die Geschichte der historischen Bilder bewahren. Ein paradoxer Anspruch, wenn die Zum Inhalt: Stummfilmbilder gleichzeitig digital eingefärbt, in 3D (Glossar: Zum Inhalt: 3D-Technik/Stereoskopie) konvertiert und Dialoge ergänzt werden, um die Rezeptionserfahrung an aktuelle Gewohnheiten anzupassen. Betrachtet man den fertigen Film, wird das Konzept umso deutlicher, den Ersten Weltkrieg für ein heutiges Publikum spürbar machen zu wollen.
Wirkmächtige Inszenierung der transformierten Bilder
Jacksons primäres Interesse war nicht die Aufarbeitung des Filmmaterials nach philologischen Maßstäben. Aber: Es sei hier bewusst nicht von Bildmanipulation gesprochen. Jenseits solcher Polemik müssen Praktiken der digitalen Bearbeitung (Glossar: Zum Inhalt: Postproduktion) historisch und differenziert in ihren jeweiligen (Interessens-)Zusammenhängen betrachtet werden. Film- und medienwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dokumentarischen Bildern zeigen, dass absolute Einteilungen in "authentisch" und "falsch" meist zu kurz greifen.
Im Falle von "They Shall Not Grow Old" wird der Transformationsprozess von historischen Schwarz-Weiß-Bildern zu den nachträglich kolorierten Bildern (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung) wirkmächtig inszeniert: Bei Beginn der Kriegshandlungen werden die vorher in ihrem Originalformat (1.33:1) (Glossar: Zum Inhalt: Bildformate) gezeigten Archivbilder, die bis dahin nur als ein Fenster in der Mitte der schwarzen Kinoleinwand erscheinen, "aufgezogen", bis sie die ganze Breite des Screens (1.85:1) einnehmen — allerdings um den Preis einer Beschneidung der Bildhöhe. Dann wechseln die Bilder zur Farbe, was den Eindruck einer unmittelbaren Teilnahme am Geschehen im Schützengraben weiter steigern soll.
Historische und elektronische Nachkolorierungen
Historisch ist die Nachkolorierung seit dem Beginn der Filmgeschichte bekannt und schließt an entsprechende Kolorierungstechniken etwa von Fotografien im 19. Jahrhundert an. Derartige Einfärbungen gelten in der Filmrestaurierung als "authentisch". Als Zeugnisse einer historischen Praktik lassen sie sich auf eine (künstlerische) Intention der Filmschaffenden, Produktionsfirmen oder Filmverleihe zurückführen. Einen anderen Fall stellen elektronische Nachkolorierungen dar, die seit den 1980er-Jahren mit dem Begriff Colorization gefasst werden. Das computerisierte Verfahren (Glossar: Zum Inhalt: CGI) wird immer wieder zur Neuvermarktung historischer Filmwerke – sowohl von Spiel- als auch Zum Inhalt: Dokumentarfilmen – eingesetzt. In der Filmrestaurierung werden solche Verfahren meist als "unethisches" Werkzeug gesehen. Ausnahmen zeigen aber, dass der Kontext entscheidend ist: So wurde das Verfahren durchaus wohlwollender gesehen, wenn Teile, die nur in Schwarz-Weiß überliefert waren, an den Rest einer ursprünglich farbigen Zum Inhalt: Sequenz angeglichen wurden – wie etwa im Fall von "Das Phantom der Oper" ("The Phantom of the Opera" , Rupert Julian, Lon Chaney, Edward Sedgwick, USA 1925/29).
Bei der dokumentarischen Beschäftigung mit den Weltkriegen sind die Arbeiten des Restaurators Adrian Wood mit historischem Farbfilmmaterial für TV-Dokumentationen wie "The Second World War in Colour" (GB 1999) technisch wie ethisch zu unterscheiden vom computerkolorierten "World War I in Colour" (GB 2003). Durchaus differenzierte Debatten wurden über Guido Knopps "Weltenbrand" (DE 2012) und die französische Serie "Apocalypse" (2009) geführt.
Makel der digitalen Bildgebung in "They Shall Not Grow Old"
Die kritisch einzuordnenden Dimensionen der Colorization erschöpfen sich jedoch keinesfalls in der Frage nach der historischen Authentizität der Filmfarben. Colorization zeitigt konkrete visuelle Konsequenzen: In "They Shall Not Grow Old" sticht das oft flache Erscheinungsbild hervor, bei dem sich großflächig derselbe Farbton ohne Nuancen über ganze Bildelemente erstreckt – besonders erkennbar an dem frischgrünen Rasen. Zudem wurden Filme, wie sie Jackson verwendete – etwa der wohl erste dokumentarische Langfilm "The Battle of the Somme" (GB 1916), auf orthochromatischem Material gedreht. In solchem Schwarz-Weiß-Material können etwa Blau und Weiß nicht differenziert abgebildet werden. Aufgrund dieser fehlenden Konturierung sind Wolken am Himmel auf dem historischen Filmmaterial weniger erkennbar. Hier wurde von Jackson offenbar deutlich dramaturgisch und kompositorisch nachgeholfen, zumal unter Ergänzung ganzer Bildelemente. Insbesondere die Rauchwolken am Himmel orchestrieren im Endresultat zusammen mit dem Ton den beklemmenden Terror des Krieges.
Darüber hinaus sind die Stummfilmbilder in ihrer Geschwindigkeit (ursprünglich 14, 15 oder etwa 18 Bilder pro Sekunde) an die moderne Bildfrequenz (24 Bilder pro Sekunde) angepasst worden. Bei Jackson werden hier allerdings nicht, wie oft üblich, historisch überlieferte Einzelbilder wiederholt. Stattdessen sind die Bilder mit dem Verfahren der Motion-Interpolation bearbeitet worden, das mithilfe von Algorithmen völlig neue Zwischenbilder berechnet. Strenggenommen sind diese Bilder digitale Neuschöpfungen. Neben dem Eindruck von deutlich flüssigeren Bewegungen, die an moderne Fernseher erinnern, entstehen hier Bildfehler, die sich insbesondere beim menschlichen Gesicht verstörend manifestieren. Bereits zu Beginn des Films in den noch schwarz-weißen Bildern verformen sich Gesichter kurzzeitig, ein rauchender Soldat scheint gar mit seiner eigenen Rauchwolke zu verschmelzen.
Archivmaterial in der heutigen Medienkultur
Diese Artefakte wirken genau dem entgegen, was Jackson am Herzen liegt: dem Bezug zu den menschlichen Gesichtern im historisch überlieferten Bild. Die zusätzliche Konvertierung in 3D führt die dramaturgisch-ästhetischen Folgen beim Umgang mit dem Archivmaterial noch deutlicher vor Augen – ganz unabhängig von einer rein restaurierungsethischen Debatte.
An dieser Stelle ein absolutes "Richtig" oder "Falsch" anzusetzen, geht an Phänomenen der (digitalen) Medienkultur vorbei: Es sind aktualisierende Verfahren – geprägt von Interessen der Gegenwart, welche die Gebrauchs- und Wahrnehmungsformen von Bildern bestimmen. Hier gilt es allerdings, einen äußerst kritischen und (historisch) medienkompetenten Blick zu entwickeln: Welche Effekte die neuen Gebrauchsformen zeitigen – und vor allem: wie sie in der Erinnerungskultur eingesetzt werden.