Isa ist eine Vagabundin. Mit wenig mehr als einem Rucksack reist sie durch ein unwirtlich kaltes Frankreich. Sie hat kein Ziel und ist doch ständig unterwegs. Weil das Geld knapp ist, übernachtet sie schon mal heimlich in einer Crêperie, wärmt sich an der Gasflamme. Marie hat es bislang nur vom Rand der Stadt Lille bis ins Zentrum geschafft; dort hütet sie als Zwischenmieterin das Appartement einer schwer verletzt aus einem Autowrack geborgenen Familie. Mit kurzfristigen Jobs hält sie sich mühsam über Wasser. Marie hat ebenso wenig ein Zuhause wie Isa. Aber sie bewegt sich nicht von der Stelle. Isa und Marie, beide um die 20, beide Einzelgängerinnen, könnten Freundinnen werden. Zunächst sieht auch alles danach aus in diesem unprätentiösen Spielfilmdebüt von Erick Zonca, mit dem der Franzose für eine Überraschung im diesjährigen Wettbewerb von Cannes gesorgt hat – nicht zuletzt wegen seiner beiden Hauptdarstellerinnen, die sich am Ende den Preis für die beste Schauspielerin teilten.
Isa lernt Marie bei einem ihrer Gelegenheitsjobs kennen und findet bei ihr vorübergehend eine Bleibe. Sie ziehen gemeinsam durch Bars, machen Bekanntschaften, begeben sich zusammen auf Jobsuche. Doch langsam treten Spannungen auf. Mit hellwachem Blick, dem
Liebe das Leben einen großen Teil seiner Eindringlichkeit verdankt, konzentriert sich Zonca ganz auf die Erlebnisse und Empfindungen seiner beiden Protagonistinnen. Es ist eine enge Welt, deren Grenzen fest abgesteckt sind von den sozialen Bedingungen. Trotz mancher Gemeinsamkeit reagieren sie jedoch sehr unterschiedlich auf die Lebensumstände, die in denkbar krassem Gegensatz zu der öffentlich weit präsenteren MTV-Fun-Jugend stehen. Beharrlich kreist die Kamera von Agnès Godard um die beiden Frauen und entlarvt allmählich deren wahres Ich. Isa mag in Lille und überall in der Welt eine Fremde sein, doch sie kann jederzeit zu einem vertrauten Ort zurückkehren: zu sich selbst. Marie hingegen findet nicht einmal in der Stadt, in der sie aufgewachsen ist, ein Zuhause: sie ist sich selbst und damit allen anderen fremd. Daran scheitert nicht nur eine Freundschaft, daran zerbricht ein Leben. Dieses Dilemma offenbart sich nicht als dramatische Erkenntnis und wird auch nicht mit spektakulären filmischen Mitteln zu Tage gefördert. Es vollzieht sich vielmehr in der Beiläufigkeit eines Alltags, dessen soziale Situation von der Gesellschaft zwar gerade noch registriert, auf die letztlich aber kaum noch reagiert wird.
Ähnlich wie Claude Chabrol bei seinem Film
Biester setzt der 42-jährige Zonca an die Stelle einer gesellschaftskritischen Lehrstunde eine vorwiegend von individuellen Charakteren getragene Geschichte, in der Außenseitertum gleichermaßen als persönliches wie gesellschaftliches Phänomen kenntlich wird. In keinem Moment seines rauen, unruhigen Films richtet er über seine Figuren; er beobachtet sie einfach. Während Isa neugierig umherstreunt, auf unkomplizierte Weise offen ist für andere und die Welt mit ihren dunklen Augen geradezu aufsaugt, scheint Marie sich ihr mit fahrigem Blick zu verweigern. In vielen Momenten wirkt sie erschreckend teilnahmslos (was sie in die Nähe des berühmtesten Fremden der Literatur, Camus' Meursault, rückt), in anderen Augenblicken lädt sich ihr Umgang mit anderen abrupt aggressiv auf. Isa, unbekümmert, arrangiert sich, Marie ficht einen verzweifelten inneren Kampf aus, der an der äußeren Welt abprallt und sich deshalb immer wieder gegen sie selbst richtet. Vielleicht eines der wichtigsten Dinge im Leben bleibt ihr dadurch verwehrt: die eigene Identität. In der stummen Kommunikation mit einem im Koma liegenden Mädchen kann Isa bezeichnenderweise mehr Nähe herstellen als Marie in der Beziehung zu ihrem reichen Liebhaber Chris, mit dessen Hilfe sie sich aus ihrer sozialen Randposition zu befreien hofft, ohne zu merken, dass ihn ihre spröde Widerspenstigkeit bestenfalls zu einer kurzen Affäre reizt.
Wenn sich Isa am Ende des Films mitten auf der Straße erleichtert im Kreis dreht, weil die junge Komapatientin auf dem Weg der Besserung ist, liegt Marie, die Isas Zuwendung nicht annehmen konnte, in der Wohnung apathisch auf ihrer Matratze. Wenig später wird sie aus dem Fenster springen. Wie sie das tut, lautlos, gleitend fast, als hätte sie selbst beim Sterben kein Recht, bemerkt zu werden, ist eine der beklemmendsten Szenen, die es in letzter Zeit im Kino zu sehen gab.
Autor/in: Tamara Dotterweich, 01.08.1998