Tunesien, Frankreich, Belgien, Deutschland, Schweden 2020 Drama
Kinostart: 24.02.2022 Verleih:[eksystent distribution] filmverleih Regie und Drehbuch: Kaouther Ben Hania Darsteller/innen: Yahya Mahayni, Dea Liane, Koen de Bouw, Monica Bellucci, Saad Lostan, u. a. Kamera: Christopher Aoun Laufzeit: 104 min, dt. F., OmU Format: Digital, Farbe, Cinemascope Filmpreise: Filmfestival Venedig 2020: "Edipo Re Award" für Kaouther Ben Hania, Darstellerpreis "Orrizonti" für Yahya Mahayni, El Gouna Filmfestival 2020: Bester arabischer Film im Spielfilmwettbewerb, Prix Lumière: Beste internationale Koproduktion FSK: ab 12 J. Altersempfehlung: ab 15 J. Klassenstufen:ab 10. Klasse Themen:Flucht, Kunst, Freiheit, Ausbeutung, Menschenrechte/-würde Unterrichtsfächer:Politik, Sozialkunde, Kunst, Ethik, Deutsch
Der junge Syrer Sam Ali ist fest entschlossen, seine Geliebte Abeer zu heiraten. Wegen einer unbedachten Äußerung wird er 2011 vom Regime inhaftiert, entkommt aber mit Hilfe seiner Schwester in den Libanon. Während Sam sich dort mit Aushilfsjobs durchschlägt, willigt Abeer auf Drängen ihrer wohlhabenden Familie in die Ehe mit einem Diplomaten ein, mit dem sie nach Brüssel zieht. In Beirut lernt Ali auf einer Vernissage den belgischen Starkünstler Jeffrey Godefroi kennen, der gerne mit provokativen Kunstaktionen auf sich aufmerksam macht. Godefroi macht Ali ein verlockendes Angebot: Wenn dieser sich ein Schengen-Visum auf den Rücken tätowieren lässt und sich als lebendes Kunstobjekt in Ausstellungen präsentiert, erhält er eine hohe Gewinnbeteiligung und ein Visum für Europa. Sam stimmt zu und reist zur ersten Ausstellung nach Brüssel, wo er in einem Luxushotel wohnt. In der Metropole kann er zwar Abeer treffen, leidet aber auch unter den Nachteilen des Vertrags mit Godefroi, der seine persönlichen Freiheiten stark einschränkt.
Die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania bezieht sich in ihrem Drehbuch auf das Kunstwerk "Tim" des Belgiers Wim Delvoye: Der Konzeptkünstler tätowierte 2008 eine aufwendige Punk-Kreuzigungsszene auf den Rücken des Schweizers Tim Steiner, der sich und seinen entblößten Oberkörper gegen Bezahlung in Galerien ausstellte. Indem der Film einen Geflüchteten aus Syrien zum menschlichen Kunstobjekt macht, fügt er der grotesken Idee eine zusätzliche politische Dimension hinzu. Die Kamera zeigt Ali häufig in Durchgängen, hinter Fenstern und in Spiegeln und veranschaulicht so sein Gefangensein im Goldenen Käfig der Kunstsphäre und den damit einhergehenden Verlust an Selbstbestimmung. Wie die schwedische Filmsatire The Square (2017) übt der Film sarkastische Kritik am Zynismus des kommerziellen Kunstbetriebs samt Starkult und Posen. Die Beleuchtung und Kameraperspektiven heben dabei Godefrois Selbstinszenierung als exzentrischer Künstler hervor. Wenig plausibel wirkt das märchenhaft überhöhte Happy Ending, wird doch die riskante Rückkehr Alis ins Bürgerkriegsland Syrien nur durch seinen fingierten Tod ermöglicht.
Der Starkünstler stellt mit dem Visum-Tattoo auf drastische Weise die Migrationspolitik vieler europäischer Länder in Frage. Der Mann, der seine Haut verkaufte bietet sich so für das Fach Politik als Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit dem Thema an: Kommen die politischen Maßnahmen einer Abschottung gleich, die im Widerspruch zu den Rechten Geflüchteter steht? Darüber hinaus liefert der Film Ansätze, um im Ethikunterricht zu untersuchen, ob die Ausbeutung des Protagonisten eine Form modernen Menschenhandels darstellt. In den Fächer Ethik und Kunst bietet sich eine Diskussion über die moralischen Grenzen der Kunst an: Rechtfertigt der Zweck einer solchen Kunstaktion die Mittel? Dürfen Kunstschaffende die Notlage eines Menschen so ausnutzen, auch wenn sie ihm zugleich helfen? Inwieweit müssen Kunst und Medien zuspitzen, um Aufmerksamkeit für Missstände zu erlangen? Im Film sagt Godefroi, der Kunststar mit den schwarz geschminkten Augen, er sehe sich manchmal als Mephistopheles. Im Deutsch-Unterricht können die Schülerinnen und Schüler Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Tattoo-Abkommen und dem Teufelspakt in Goethes Faust herausarbeiten.
Arbeitsblatt zu Der Mann, der seine Haut verkaufte
Fächer: Philosophie, Kunst ab Oberstufe
Vor der Filmsichtung:
a) Betrachten Sie das Filmplakat. Nutzen Sie die Methode des Brainstormings und notieren sie in Einzelarbeit, was Ihnen durch den Kopf geht. Auch Fragen sind erlaubt. Tauschen Sie sich anschließend im Plenum über ihre Assoziationen und Fragen aus.
b) Artikel 1.1 des Grundgesetzes lautet: „Die Menschenwürde ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt.“ Die Achtung der Menschenwürde wird durch die Objektformel konkretisiert: Die Menschenwürde wird dann verletzt, wenn der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel herabgewürdigt wird. Sie knüpft an das Instrumentalisierungsverbot von Immanuel Kant an, das er in der sogenannten „Selbstzweckformel“ des Kategorischen Imperativs formuliert: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ Gehen Sie zu zweit zusammen und finden Sie Beispiele dafür, in welchen Situationen ein Mensch bloß als Mittel gebraucht wird.
Während der Filmsichtung:
c) Der Protagonist Sam Ali sieht sich im Film auf mehrfache Weise mit einem ihn herabwürdigenden Verhalten konfrontiert. Welche Szenen zeigen dies? Welche erzählerischen, sprachlichen und filmgestalterischen Mittel werden eingesetzt, um die jeweiligen Herabwürdigungen in Szene zu setzen? Machen Sie sich unmittelbar nach der Filmsichtung stichpunktartig Notizen.
Nach der Filmsichtung:
d) Tauschen Sie sich in Kleingruppen zu ihren Notizen aus Aufgabe b) und c) aus. Benennen Sie ebenso, was Sie besonders überrascht, verstört und/oder berührt hat. Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse anschließend im Plenum.
e) In einem Interview äußert sich die Regisseurin Kaouther Ben Hania wie folgt:
"Der Mann, der seine Haut verkaufte bietet dem Publikum eine Bandbreite von emotionalen Variationen eines Themas an. Diese ergeben sich vor allem aus der emotionalen Entwicklung der Hauptfigur. Der psychologische Zustand des Hauptcharakters bestimmt also jede Szene und den Ton des Filmmoments. Um eine Szene zu kreieren, stelle ich mir folgende Frage: Was fühlt die Figur an diesem Punkt in ihrem Leben? Dann baue ich die Szene - ihr Licht, ihr Dekor, ihre Kostüme, ihre Handlungen und Dialoge, ihre Musik - so auf, dass dieses Gefühl durchscheint.“
Wählen Sie – je nachdem wo und wie Sie den Film gesehen haben eine der beiden Teilaufgaben aus:
1. Falls Sie den Film im Kino gesehen haben: Erinnern Sie sich an aussagekräftige Szenen, die Ben Hanias Ansatz verdeutlichen.
2. Falls Sie mit der DVD oder der VoD-Fassung arbeiten: Sehen Sie sich die folgenden Szenen erneut an. Überlegen Sie sich zunächst, welche emotionale Entwicklung Sam Ali im Film durchläuft und bestimmen Sie dann, wie er sich am jeweiligen Punkt der Filmhandlung fühlt. Analysieren Sie die Szene anschließend im Hinblick auf ihre mise-en-scène (Auswahl und Gestaltung der Drehorte, Schauspielführung, Licht- und Farbgestaltung, Kameraführung (Bewegungen, Perspektiven und Einstellungsgrößen)) sowie auf ihre Kostüme und Filmmusik hin.
1.Szene: Timecode: 00:04:46-00:08:11 2.Szene: Timecode: 00:40:16-00:44:10
3.Szene: Timecode: 01:22:46-01:26:53 4.Szene: Timecode: 01:33:24-01:34:32
f) Sind die von der Regisseurin gewählten filmgestalterischen Mittel Ihrer Meinung nach dafür geeignet, die jeweilige emotionale Verfasstheit Sam Alis "durchscheinen" zu lassen? Falls nicht, was hätten Sie anders gemacht?
g) Der Film ist von einer wahren Begebenheit inspiriert. Der Schweizer Tim Steiner ließ sich ein Werk des belgischen Konzeptkünstlers Wim Delvoye auf seinen Rücken tätowieren. 2008 wurde es an den Kunstsammler Rik Reinking verkauft. Informieren Sie sich online selbstständig über die wahren Begebenheiten sowie über Wim Delvoye und seine Werke. Folgende Dokumente können Ihnen dabei helfen:
h) Verändert die Tatsache, dass der Film auf einer wahren Begebenheit beruht, Ihren bisherigen Rezeptionseindruck?
i) Teilen Sie ihre Lerngruppe in fünf Gruppen auf. Bereiten Sie sich innerhalb ihrer Gruppen auf eine Podiumsdiskussion mit der Streitfrage "Wie weit darf Kunst gehen?" vor. Entscheiden Sie dann, wer ihre Gruppe auf dem Podium repräsentiert. Wählen Sie ebenso ein oder zwei Moderator/-innen aus, die die Gesprächsführung übernehmen. Fragen der Zuschauer/-innen während der Diskussion sind erwünscht.
Gruppe A: Sam Ali Gruppe B: Jeffrey Godefroi Gruppe C: Sam Alis Mutter Gruppe D: Vorsitzender des Flüchtlingsvereins Gruppe E: Galerist
Optional:
j) Im Film äußert sich der Künstler Jeffrey Godefroi wie folgt: "Nicht die Kunst ist zynisch, sondern die Welt, in der wir leben." Erörtern Sie diese Aussage. Verfassen Sie einen Essay. Beziehen Sie ihre Ergebnisse aus der Arbeit mit dem Film (optional Philosophie: sowie ihnen bekannte moralphilosophische Positionen) in ihre Argumentation mit ein.
k) Stellen Sie ihre Essays vor und geben Sie einander kriterienorientiertes Feedback.
Autor/in: Reinhard Kleber (Filmbesprechung), Lena Sophie Eckert (Arbeitsblatt), 23.02.2022