Afghanistan, Ende der 1980er-Jahre: Ohne Eltern und feste Bleibe schlägt sich der 15-Jährige Qodrat in Kabul mit kleinen Gaunereien durch. Zuflucht vor der harten Existenz auf der Straße findet er allein im Kino – in den grell-bunten
Actionfilmen und Musicals aus
Bollywood, bei denen das Publikum begeistert mitgeht. Als der Junge eines Tages Tickets für einen Kassenschlager auf dem Schwarzmarkt verkauft, wird er von der Polizei ergriffen und landet in einem Waisenhaus. Dort wird er mit den offiziellen Regeln der sozialistisch ausgerichteten Erziehungsanstalt konfrontiert wie auch mit den heimlichen Machtkämpfen der Teenager. Vor allem aber findet er Freunde, mit denen er kleine Abenteuer, Schicksalsschläge und die Schwärmerei für Mitschülerinnen und die sowjetischen Gastlehrerinnen teilt. Doch so sehr das Heim wie ein eigener Kosmos erscheint, von den politischen Umbrüchen im Land – das Ende der sowjetischen Besatzung und damit die Machtübernahme der Mujaheddin stehen kurz bevor – bleiben auch die Kinder nicht verschont.
Die internationale Koproduktion
Kabul Kinderheim von Shahrbanoo Sadat ist der zweite Film eines geplanten fünfteiligen Kinozyklus der jungen afghanischen Filmemacherin, der von den unveröffentlichten Tagebüchern ihres Freundes Anwar Hashimi inspiriert ist. Der persönliche Zugang der Regisseurin zu diesem Stoff zeigt sich unmittelbar im empathischen Blick auf Qodrat und die anderen Jungen. Nicht nur darin erinnert
Kabul Kinderheim mitunter an François Truffauts Nouvelle-Vague-Klassiker
Sie küssten und sie schlugen ihn (1959). Dabei ist Sadats
Inszenierung jederzeit eigenständig und originell: Der Einsatz der
Handkamera und abrupte
Schnitte lassen das Geschehen lebensnah wirken, entfachen aber keine oberflächliche Dramatik. Vielmehr entfaltet der vorwiegend mit Laien besetzte Film seine Kraft durch eine eher lakonische, von feinem Humor durchzogene Beobachtung des Kinderheimalltags. Einen Kontrast dazu bilden Qodrats Tagträumereien, die ihn in der Rolle eines singenden oder kämpfenden Bollywood-Helden zeigen. Die amüsanten
Szenen, die einen Gegensatz zur realen Machtlosigkeit des Jungen bilden, stechen umso schriller heraus, da der
Coming-of-Age-Film ansonsten auf
Filmmusik verzichtet.
KABUL KINDERHEIM // THE ORPHANAGE Trailer deutsch from Wolf Kino on Vimeo.
Sadats Film entwirft ein ungewohnt differenziertes Bild von Afghanistan zur Zeit der sogenannten sowjetischen Intervention. Zugleich ist
Kabul Kinderheim inzwischen selbst ein Zeitdokument: Angesichts der erneuten Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 sah sich die Regisseurin gezwungen, nach Deutschland zu flüchten. Die Ausübung ihres Berufs ist unter dem jetzigen Regime kaum denkbar. Insofern bietet der Film vielfältig Anlass, um sich im Fach Politik mit der Geschichte und aktuellen Lage Afghanistans auseinanderzusetzen: Wie zeichnet der Film den Alltag der Afghan/-innen unter sowjetischer Besatzung? In diesem Zusammenhang können anhand anderer Quellen Unterschiede im Vergleich zur ersten Taliban-Herrschaft und zu den Jahren der Nato-Intervention herausgearbeitet werden. Zudem lohnt es sich auch, etwa im Ethikunterricht, mit Schülerinnen und Schülern Gemeinsamkeiten zwischen ihnen und den jugendlichen Figuren im Film zu diskutieren. In der Filmbildung eignet sich
Kabul Kinderheim hervorragend, um die Fixierung auf westliche Film- und Kinotraditionen aufzubrechen, die Perspektive zu erweitern und die Seherlebnisse gemeinsam zu reflektieren.
Autor/in: Jörn Hetebrügge, Filmjournalist und kinofenster.de-Redakteur, 01.11.2021
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