In einem Vorort der tschadischen Hauptstadt N'Djamena lebt die alleinerziehende Amina mit ihrer 15-jährigen Tochter Maria. Amina bestreitet den Lebensunterhalt der beiden, indem sie aus alten Autoreifen die Stützdrähte herausschneidet und daraus Körbe zum Verbrennen von Holz herstellt. Maria kennt ihren Vater nicht, der ihre Mutter noch vor ihrer Geburt verlassen hat. Amina wurde deshalb damals von ihrer Familie verstoßen. Nun droht sich das Schicksal zu wiederholen, denn ihre Tochter ist ungewollt schwanger und wurde daher von der Schule ausgeschlossen. Während Maria abtreiben will, lehnt Amina dies als gläubige Muslimin ab. Zudem sind Abtreibungen nur in bestimmten Fällen gesetzlich erlaubt, bei einem Verstoß drohen hohe Haft- und Geldstrafen. Doch dann ändert Amina ihre Meinung und ringt sich dazu durch, ihrer Tochter zu helfen. Um das nötige Geld für den Eingriff aufzutreiben, ist sie sogar bereit, gegen Bezahlung Sex mit ihrem Verehrer Brahim, einem älteren Nachbarn, zu haben. Jedoch scheitert ein erster Abtreibungsversuch in einer Arztpraxis, und Mutter und Tochter entgehen nur knapp einer Polizeirazzia. Dennoch gibt Amina nicht auf und so kommt sie an die Adresse einer Hebamme.
Der 1961 geborene
Drehbuchautor und Regisseur Mahamat-Saleh Haroun gilt als prominentester Filmemacher des Tschad, seit er mit seinem Debüt
Bye-bye Africa 1999 den ersten Langfilm des Landes realisierte. Mit
Lingui widmet sich der seit 1982 überwiegend in Frankreich lebende Filmemacher erstmals dem Thema der Frauenrechte in der patriarchalen Gesellschaft. Sein Film erzählt die Geschichte geradlinig und in gemächlichem Tempo. Die agile
Handkamera setzt gelegentlich dramatische Akzente, indem sie die innere Unruhe und Verzweiflung der Protagonistinnen gleichsam widerspiegelt. Im Verbund mit dem Verzicht auf
nichtdiegetische Musik verleiht sie den
Szenen zudem eine realistische Anmutung. Zur Authentizität der Milieuschilderung tragen auch die Laiendarstellerinnen Achouackh Abakar Souleymane (Amina) und Rihane Khalil Alio (Maria) bei. Zumindest bei Zuschauenden mit westlichen Sehgewohnheiten könnten einige erzählerische Leerstellen für Irritationen sorgen. So bleibt offen, warum Aminas tätliche Vergeltung gegen den mutmaßlichen Vergewaltiger ihrer Tochter keine strafrechtlichen oder andere Folgen hat.
Lingui, Trailer (© déjà-vu film)
Das tabubehaftete Thema Schwangerschaftsabbruch steht im Zentrum der Erzählung. Durch die behutsame Herangehensweise bieten sich gute Ansatzpunkte, um die kontroverse Debatte, die Gesetzeslage und die religiöse Ächtung der Abtreibung in Fächern wie Religion, Politik und Recht anzusprechen. Wie unterscheiden sich die gesetzlichen Regelungen in religiös geprägten Gesellschaften von denen in säkularen Staaten? Wo erhalten Betroffene Beratung und Unterstützung? Im Ethikunterreicht kann über das Recht auf Abtreibung diskutiert werden, insbesondere nach einer Vergewaltigung. Dabei kann es auch um die Frage gehen, ab wann im menschlichen Körper neues Leben beginnt. Der Film lässt keinen Zweifel daran, dass Amina und Maria auf eine konsequente weibliche Solidarität angewiesen sind, um sich aus ihrer Notlage zu befreien. Im Fach Sozialkunde können die Schüler/-innen diskutieren, warum die Frauen viel Einfallsreichtum und Mut brauchen, um ihre Interessen gegen patriarchale Strukturen in Staat und Religion durchzusetzen. Inwiefern wird die sozial diskriminierte Amina als Symbolfigur der femininen Selbstermächtigung geschildert?
Autor/in: Reinhard Kleber, 13.04.2022
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