Ein Bild aus dem heutigen
Neapel: Nicola und seine Clique sind jung, stürmisch und auf der Suche nach dem schnellen Geld. Ein Überfall auf einen Juwelier wird zum ersten Schritt in die Kriminalität. Markenklamotten, Motorroller, Champagner in der Disco – auf einmal können sie sich alles leisten und damit auch noch die Mädchen beeindrucken. In der Hierarchie der örtlichen Mafia rücken sie ein ganzes Stück nach oben. Doch Nicola will mehr als seine Freunde. Seine Mutter gehört zu den kleinen Gewerbetreibenden im Viertel, die den lokalen Clans regelmäßig "Schutzgeld" bezahlen müssen. Damit soll Schluss sein, unter der Herrschaft der "Paranza" (Bande), wie sich Nicola und seine Kumpane selbst nennen, soll es gerecht zugehen. Solche Träume erweisen sich jedoch als Illusion. Die knallharten Regeln des kriminellen Geschäfts und Streitigkeiten innerhalb der Bande fordern ihren Tribut – und die nächste Generation steht schon bereit.
Nach dem
Tatsachenroman "Der Clan der Kinder" des als "Mafiajäger" bekannt gewordenen Autors Roberto Saviano erzählt der Film von der Perspektivlosigkeit der süditalienischen Jugend, die mittlerweile auch die Mittelschicht erfasst. Nicola und seine Freunde, gespielt von vor Ort gecasteten Laiendarstellern/-innen, sind keine "geborenen" Kriminellen. Ihre Sehnsucht nach teuren Uhren und Designerkleidung, die sie nur im Schaufenster betrachten dürfen, unterscheidet sie nicht von anderen Jugendlichen. Ihre vom Film rauschhaft
inszenierten Motorrollerfahrten durch ihr Viertel vermitteln eher die Lust am Überschwang als unterschwellige Aggression. Dahinter jedoch bemerkt man eine emotionale Leere sowie einen Mangel an vermittelten Werten. Ihre Entscheidung für das Verbrechen geschieht in einer Welt, die geprägt ist von der Abwesenheit der Eltern und dem Fehlen ordnender Strukturen jenseits der Kriminalität. Die Schule besuchen sie nicht mehr. Auf sich allein gestellt, folgen sie nur noch den Regeln der Gewalt. Gegenüber dem ungleich raueren Film
Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra, der ebenfalls auf einem Buch Savianos basiert, halten sich die Gewaltdarstellungen allerdings in Grenzen.
Paranza – Der Clan der Kinder, Trailer (© Prokino Filmverleih)
Für den Politik- und Gemeinschaftskundeunterricht bietet der Film die Gelegenheit, die Dynamik von männlich geprägten Jugendbanden und die Mechanismen von Gewalt zu erörtern. Die dort eindrücklich beschriebenen Phänomene beschränken sich keineswegs auf Neapel, wo die Verhaftung wichtiger Mafiabosse ein Machtvakuum hinterlassen hat, das Nicolas Clique nur zu füllen braucht. So können die Schülerinnen und Schüler deren Motive – etwa die Sehnsucht nach Anerkennung und Statussymbolen – analysieren und mit eigenen Erfahrungen im Alltag vergleichen, vielleicht sogar auf dem eigenen Schulhof. Unter filmsprachlicher Perspektive ließe sich diskutieren, inwieweit der Film mit seinen attraktiven Bildern und flüssigem
Schnitt selbst der Faszination der Gewalt erliegt. Liefern solche Filme die Vorbilder für kriminelle Karrieren? Und was löst das Fehlen positiver Vorbilder bei den Jungen im Film aus? Einen möglichen Hinweis zu solchen Fragen bieten zahlreiche
Szenen, in denen sich die Jugendlichen selbstvergewissernd im Spiegel betrachten. Dass sie zu jeder neu erworbenen Waffe ein Selfie produzieren, zeigt sie als geradezu typische Kinder ihrer Zeit.
Arbeitsblatt: Paranza – Der Clan der Kinder - Heranführung an den Film
Fächer: Deutsch, Politik ab Jahrgang 11, ab 16 Jahre
Vor der dem Filmbesuch:
a) Bilden Sie Kleingruppen, die arbeitsteilig am Filmplakat zur deutschen Fassung und am Filmplakat zur italienischen Originalfassung arbeiten:
- Analysieren Sie die Bildgestaltung und interpretieren Sie die Wirkung. Achten Sie dabei besonders auf die dargestellten Personen, deren Körperhaltung und Blickrichtung. Welche Situation wird möglicherweise darstellt? Was könnte vor bzw. nach dieser Filmszene passieren? Notieren Sie ihre Eindrücke in einem Brainstorming!
- Recherchieren Sie den italienischen Begriff "Paranza". Der Begriff hat mehrere, sehr unterschiedliche Bedeutungen. Entscheiden Sie: Welche Bedeutung passt zum Filmplakat?
- Formulieren Sie abschließend ihre Erwartungen an die Filmhandlung.
- Stellen Sie sich im Plenum gegenseitig die Ergebnisse Ihrer Arbeitsgruppen vor.
b) Sichten Sie den
Trailer zum Film.
Ergänzen und verändern Sie anschließend Ihre Erwartungen an die Filmhandlung.
Im Trailer kommentiert Nicola, eine der Hauptpersonen des Films, die Handlung wie folgt:
"Respekt und Ehre nahmen mir viele Weggefährten, meine Brüder, Brüder im Schicksal.
Und trage ich die Pistole, stehen ihre Namen auf dem Lauf… gehe ich die Straßen entlang, schreiten sie an meiner Seite."
Interpretieren Sie diesen Satz vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Informationen und Erwartungen an die Filmhandlung.
Hinweis: Der Film spielt in der süditalienischen Metropole Neapel.
- Informieren Sie sich gegebenenfalls über die wirtschaftliche und soziale Lage in der Stadt und vor allem in den beiden Stadtteilen (Quartieri) Sanità und Spagnoli.
- Informieren Sie sich über den Begriff "Camorra".
Während der Sichtung des Films:
c) Wählen Sie arbeitsteilig eine der drei Beobachtungsaufgaben aus. Achten Sie grundsätzlich darauf, wie inhaltliche Aspekte durch filmästhetische Mittel hervorgehoben oder unterstrichen werden (beispielsweise
Kameraeinstellungen und
-perspektiven,
Schauplätze und Szenarien)
- Der 15-jährige Nicola ist eine der Hauptpersonen des Films. Beobachten Sie die Entwicklung seiner Persönlichkeit. Achten Sie dabei besonders auf seine Position im Kreis seiner gleichaltrigen Freunde, sein Verhalten in der Familie und gegenüber erwachsenen Personen.
- Neben den vielen Männern kommen im Film zwei besondere Frauenrollen vor: Die ebenfalls 15-jährige Letizia und Nicolas alleinerziehende Mutter. Beobachten Sie das Verhalten dieser Frauen in der von Jungen und Männern dominierten Lebenswelt.
- Einige der Erwachsenen werden mit dem Titel Don als Anführer bestimmter Gruppen angesprochen. Beobachten Sie, welche Bedeutung diese Figuren für den Alltag in den Stadtvierteln und gegenüber den Jugendlichen haben.
Nach dem Filmbesuch:
d) Tauschen Sie sich darüber aus, welche Erwartungen aus der Vorbereitung des Kinobesuchs sich (nicht) erfüllt haben.
e) Bilden Sie arbeitsteilige Kleingruppen zu den Ergebnissen aus Aufgabe c):
- Sammeln und sichten Sie ihre Ergebnisse zu ihrer jeweiligen Beobachtungsperspektive.
- Erstellen Sie drei bis fünf Screenshots aus dem Trailer, mit deren Hilfe Sie Ihre Ergebnisse den anderen Gruppen präsentieren (beispielsweise als Power-Point-Präsentation oder als Lernplakat). Tauschen Sie sich jeweils über die Bildsprache der Screenshots aus und ziehen Sie die Verbindung zu filmästhetischen Mitteln der Trailerszenen.
Hinweise und Anregungen zur Bearbeitung der Aufgabe e):
1. Nicola:
- Welche Verhaltensweisen Nicolas sind dem Jugendalter und/oder der besonderen Lebenssituation im Quartieri Sanità zuzuordnen?
- Lässt sich die unter a) recherchierte Bedeutungsvielfalt des Wortes "Paranza" einzelnen Phasen in der Entwicklung Nicolas zuordnen?
2. Letizia/ Nicolas Mutter
- Nicolas Mutter: Untersuchen Sie ihre Arbeit, finanzielle Situation, Wohnverhältnisse, Sozialstatus. Ihr Verhalten gegenüber ihren Kindern verändert sich im Laufe des Films. Welchen Einfluss hat dieses Verhalten auf die Entwicklung Nicolas?
- Letizia: Welche Verhaltensweisen Letizias sind typisch dem Jugendalter oder der besonderen Lebenssituation im Quartieri Spagnoli zuzuordnen? Welche Unterschiede ihrer familiären Situation zu der von Nicola lassen sich feststellen?
- Welche Szenenfotos zeigen die Rolle der Frauen im Film?
3. Die Dons der Clans:
- Vergleichen Sie das Verhalten der Dons gegenüber ihren Familien und den Mitgliedern ihres Clans mit den Veränderungen im Verhalten Nicolas. Mit welchen Szenenfotos aus dem Trailer wird deutlich, wie Nicola das Verhalten des Dons kopiert oder verändert?
- Welche Rolle als Vorbild für Nicola spielt der erschossene Don Tonino Striano?
f) Der Film nutzt Motive des
Filmgenres Gangsterfilm.
Analysieren Sie, welche der im Lexikon der Filmbegriffe der Universität Kiel (
http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=3423) unter "Gangsterfilm" aufgelisteten Elemente den Film kennzeichnen und ordnen Sie diesen Motiven ausgewählten
Filmsequenzen zu. Diskutieren Sie die Wirkung der Verwendung dieser Motive.
g) Die Themen des Films sind: Gewalt unter Jugendlichen und Erwachsenen / Waffen in der Hand von Kindern und Jugendlichen / Schutzgelderpressung / Mord / der Weg in die Kriminalität und das organisierte Verbrechen. Der Film ist von der freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) ab 16 Jahren freigegeben.Diskutieren Sie diese Entscheidung auf der Grundlage der folgenden beiden Zitate:
Bei 16- bis 18-jährigen kann von einer entwickelten Medienkompetenz ausgegangen werden. Problematisch bleibt die Vermittlung sozial schädigender Botschaften. Nicht freigegeben werden Filme, die Gewalt tendenziell verherrlichen, einem partnerschaftlichen Rollenverhältnis der Geschlechter entgegenstehen, einzelne Gruppen diskriminieren oder Sexualität auf ein reines Instrumentarium der Triebbefriedigung reduzieren. Auch die Werteorientierung in Bereichen wie Drogenkonsum, politischer Radikalismus oder Ausländerfeindlichkeit wird mit besonderer Sensibilität geprüft. (Quelle: Beurteilungskriterien der FSK 16 http://www.spio-fsk.de/?seitid=508&tid=72)
Wo Erziehungsansätze auf fruchtbaren Boden fallen, kann auf Gewalt verzichtet werden. Wo es an Bildung fehlt, entsteht Gewalt. In einer konstruktiven Diskussion über diese Probleme dürfte nie von Nachahmung, von sichtbarer Gewalt, die neue Gewalt erzeugt, die Rede sein. Nicht, weil es keine Nachahmung dieser Gewalt gäbe, sondern weil Verbote und Zensur keine Lösungen sind. Wisst ihr, was es bedeutet, Inhalte zu zensieren? Wer das tut, der sagt: „Wir denken, dass einige von euch unfähig sind, zu unterscheiden, was gut ist und was nicht. Also ist es besser, wenn ihr keinen Zugang zu bestimmten Inhalten habt. Denn wenn ihr Prostituierte im Fernsehen seht, fangt ihr an, auf den Strich zu gehen und wenn ihr Kriminelle im Kino seht, werdet ihr kriminell. Ihr dürft das nicht sehen, ihr dürft das nicht kennenlernen. Ihr dürft kein Wissen haben, denn wenn man es euch zur Verfügung stellt, gebraucht ihr es schlecht.“ Doch wer sind diese Zensoren, dass sie entscheiden können, was gezeigt und was verboten wird?
(Stellungnahme des Drehbuchautors Roberto Saviano, abgedruckt im Presseheft zum Film, verfügbar unter: http://archiv.polyfilm.at/La%20paranza%20dei%20bambini/Presseheft+PARANZA+-+DER+CLAN+DER+KINDER-poly.pdf)
h) Der Film erhielt auf dem Filmfestival Berlinale 2019 einen Silbernen Bären für sein
Drehbuch. Die Kritiken zum Film fielen unterschiedlich aus. Recherchieren Sie Rezensionen zum Film und verfassen Sie abschließend eine eigene Filmkritik.
Beispiele:
Autor/in: Philipp Bühler, Dr. Manfred Karsch (Arbeitsblatt), 19.08.2019
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