Tori und Lokita haben sich auf der Flucht von Benin nach Belgien kennengelernt. Der elfjährige Tori hat bereits seine Papiere erhalten und darf zur Schule gehen. Damit auch die einige Jahre ältere Lokita eine Aufenthaltserlaubnis bekommt, geben sich die beiden als Bruder und Schwester aus. Zusammen arbeiten sie in einer kleinen Pizzeria. Für den Koch verkaufen sie Drogen in den Nachtklubs von Lüttich, um ihre Schlepperschulden bezahlen und Lokitas Mutter regelmäßig Geld schicken zu können. Mit "geschwisterlichem" Zusammenhalt kämpfen sie sich durch den Alltag. Doch die Zweifel der Behörden an ihrer Verwandtschaft werden größer. Als diese schließlich einen DNA-Test verlangen, lässt sich Lokita auf ein gefährliches Angebot ein, um an einen Pass zu kommen: Drei Monate soll sie abgeschottet von der Außenwelt in einem Bunker eine Cannabisplantage pflegen. Im Kampf um eine Daseinsberechtigung in einer Gesellschaft, die sie nicht haben will, bleibt die innige Freundschaft der neuen Geschwister der einzige Halt und Zufluchtsort.
In ihrem neuen Film widmen sich die für ihre gesellschaftskritischen Sozialdramen vielfach ausgezeichneten Regisseure Jean-Pierre und Luc Dardenne den Erfahrungen junger Menschen vor dem Hintergrund illegalisierter Migration. Mit einem zutiefst menschlichen Blick formuliert
Tori & Lokita Kritik am Umgang europäischer Gesellschaften mit jungen Geflüchteten. Dafür greifen die Filmemacher für ihr Schaffen zentrale Gestaltungselemente auf – etwa die Arbeit mit
Laiendarsteller/-innen, der wiederholt unmittelbare Einstieg in verschiedene
Szenen oder eine
Bildgestaltung, die in oft langen Einstellungen stets
sehr dicht an den Figuren bleibt und mit rastloser
Handkamera den Druck überträgt, unter dem sie stehen. Damit erzeugt der Film eine große Realitätsnähe und stellt sich ohne verfangende Tragik stereotypen Darstellungen und Narrativen entgegen. Tori und Lokita und ihre gemeinsame Geschichte lernen wir wie nebenbei und mit schlichter Selbstverständlichkeit kennen – etwa wenn sie in der Pizzeria ein
sizilianisches Lied singen, das sie auf der Flucht kennengelernt haben, sie nebeneinander einschlafen oder Tori Lokita bei einer Panikattacke beisteht. Es sind Momente, in denen Blicke und Gesten ausreichen, um von Einsamkeit und Ausbeutung zu erzählen und den Zynismus des feindseligen Umfelds vehement zu pointieren.
Im Fokus der Handlung stehen die beiden titelgebenden Figuren. Der Erzählperspektive des Films folgend können ihre konkreten Probleme, Bedürfnisse und Wünsche betrachtet werden. Wer definiert, was (Wahl-)Geschwister sind? Haben Tori und Lokita eine Wahl? Und wie geht die Gesellschaft mit ihnen um? Diese Fragen lassen sich in gesellschaftspolitischen Fächern vertiefen. Hierbei bietet sich auch die Betrachtung von Nebenfiguren an, die zum Sinnbild für eine mit zweierlei Maß messende Gesellschaft werden: der Schlepper Firmin, der sich als Gutmensch im Kirchenumfeld deckt. Der Pizzabäcker Betim, der die Lage der Geschwister ausnutzt, sie kriminalisiert und Lokita sexuell missbraucht. Oder die Sozialarbeiterin, die sich hinter den Strukturen der Behörden versteckt. Nicht zuletzt kann untersucht werden, wie der Film in seiner Darstellung von Gewalt indirekt bleibt, dafür aber umso wirkmächtiger ist.
Arbeitsblatt zu Tori & Lokita
Fächer: Deutsch, Sozialkunde, Ethik, Philosophie, Französisch ab Klasse 11, ab 16 Jahren
Vor der Filmsichtung:
a) Analysieren Sie das Filmplakat. Stellen Sie im Plenum Vermutungen darüber an, in welcher Beziehung die Personen auf dem Bild zueinander stehen und worum es im Film gehen könnte.
b) Fassen Sie zusammen, was Sie über die Situation unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter in Europa wissen. Halten Sie Ihr Wissen an der Tafel fest.
c) Nennen Sie Probleme, mit denen unbegleitete Geflüchtete konfrontiert sind. Gehen sie auch darauf ein, was Freundschaft für diese Kinder und Jugendlichen bedeutet.
Während der Filmsichtung:
d) Achten Sie darauf, was Sie über die Migrationsgeschichte von Tori und Lokita erfahren. Gehen Sie darauf ein, welche Situationen Tori und Lokita im Film durchlaufen und welchen Menschen sie begegnen.
Legen Sie Ihren Beobachtungsfokus auch auf die Wirkung filmästhetischer Mittel wie lange
Einstellungen und der Einsatz der
Handkamera haben.
Hinweis: Machen Sie sich direkt nach der Filmsichtung Notizen.
Nach der Filmsichtung:
e) Schließen Sie die Augen. An welchen Moment des Films mussten Sie denken? Tauschen Sie sich im Plenum aus und überlegen Sie, weshalb Ihnen gerade dieser Moment in den Sinn kam.
f) Tauschen Sie sich in Kleingruppen zu Ihren Beobachtungen aus Aufgabe d) aus und ergänzen Sie Ihre gegebenenfalls Ihre Notizen. Besprechen Sie Ihre Ergebnisse anschließend im Plenum.
g) Der Beweggrund für das Regie-Duo,
Tori & Lokita zu drehen, war die Tatsache, dass viele unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Europa verschwinden und teils Opfer krimineller Netzwerke werden (Quelle: Interview im Rahmen des sansebastianfestival mit Jean-Pierre und Luc Dardenne:
www.youtube.com).
Erweitern Sie Ihre Kenntnisse aus Aufgabe b): Recherchieren Sie im Tandem zur Situation unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter in Deutschland und machen Sie sich Notizen zu folgenden Fragen:
1. Arbeiten Sie Gründe für Flucht und Auswanderung von unbegleiteten Minderjährigen heraus.
2. Stellen Sie dar, wie viele unbegleitete minderjährige Geflüchtete leben in Deutschland und wer ihnen hilft.
3. Zeigen Sie die rechtliche Situation minderjähriger Geflüchteter auf.
4. Wie viele unbegleitete minderjährige Geflüchtete werden in Deutschland derzeit vermisst und was weiß man über die Ursachen ihres Verschwindens?
Folgende Websites können Sie als Ausgangspunkt für Ihre Recherche verwenden:
•
bpb.de
•
mediendienst-integration.de
•
dhkw.de
•
kinofenster.de
h) Stellen Sie sich Ihre Ergebnisse im Plenum vor und ergänzen Sie gegebenenfalls Ihre Notizen.
i) Den Dardenne-Brüdern wurde bei den Filmfestspielen in Cannes 2022 ein Spezialpreis für ihren Film Tori & Lokita verliehen. Sie reagierten wie folgt:
"Dieser Film ist für alle Tori und Lokitas, die in Europa sind. Es geht darum, weiterhin zu fordern, die Gesetze in den europäischen Ländern zur Aufnahme von Migranten und insbesondere jungen Geflüchteten zu ändern" (Quelle:
www.cinergie.be).
Diskutieren Sie im Plenum und begründen Sie Ihre Einschätzung: Haben Filme die Macht, etwas zu realen Veränderungen beizutragen?
j) Schreiben Sie eine Filmkritik, in der Sie das bisher Erarbeitete miteinbringen.
k) Werten Sie die Filmkritiken wechselseitig und kriteriengeleitet aus und übergeben Sie die gelungenste Ihrer Schülerzeitung oder machen Sie diese in Form eines Plakats zugänglich.
Autor/in: Lisa Haußmann (Filmbesprechung), Lena Sophie Gutfreund (Arbeitsblatt), 24.10.2023
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