Die lange Karriere der isländischen Popkünstlerin Björk Guðmundsdóttir begann vor mehr als 40 Jahren im Kindesalter und dauert mit ungebrochener Produktivität bis heute an. Als Sängerin der Rockband
Sugarcubes aus Reykjavík wurde sie in den 1980er-Jahren international bekannt, mit dem Album "Debut" (1993) startete sie erfolgreich eine Solokarriere und übernahm 2000 die Hauptrolle in Lars von Triers Drama
Dancer in The Dark. Popballaden, Techno-Beats, A-Cappella-Stücke oder epische Streicher-Arrangements: Björk experimentiert immer wieder mit großer musikalischer Vielfalt – und einem ständigen Imagewandel.
Das Musikvideo zum Song "Hunter" aus dem Jahr 1998 präsentierte die Künstlerin damals in einem neuen Licht, zeigt aber auch im wörtlichen Sinne eine Verwandlung. Zuvor hatten die Musikmedien Björk stark mit ihrer Herkunft von der Vulkaninsel Island und dem Image der verträumten "Elfe" (Englisch: "pixie") in Verbindung gebracht. Ihre vielbeachteten Videoclips, oft in Zusammenarbeit mit dem französischen Regisseur Michel Gondry, hatten zumindest das Bild einer naturverbundenen Künstlerin verfestigt. In
Hunter jedoch
inszeniert Regisseur Paul White eine kahlköpfige Björk im
Close-Up zunächst vor einem
Green Screen, der später durch einen künstlichen
weißen Hintergrund ersetzt wurde. Es ist ein Performance-Clip, der die Sängerin intim und minimalistisch in Szene setzt. Während sie mal mit Blick zur Kamera singt, sich schüttelt und windet, nimmt ihr Gesicht schrittweise die Gestalt eines – sichtlich
computergenerierten – Polarbären an.
"Hunter" gilt, nicht nur nach Björks eigener Aussage, als sehr persönliches Stück über Identität und Selbstfindung. Das lyrische Ich reklamiert darin eine Rolle, die in traditionellen Kulturen ("Jäger und Sammler") meist Männern vorbehalten ist:
"If travel is searching
and home what's been found
I'm not stopping
I'm going hunting
I'm the hunter."
Elektronische Bässe und Computer-Drums im militärischen Takt sind typisch für den Sound des Albums "Homogenic", das Björk später ironisch als "machohaft" bezeichnet hat. In "Hunter" schwächen komplexe Klanglandschaften (Soundscapes) aus Streichern, Akkordeon und Synthesizer diese harten Klänge ein wenig ab. In einer vielzitierten Zeile führen die Lyrics von der metaphorischen zu einer konkreteren Ebene: "I thought I could organise freedom / How Scandinavian of me". Die oft bewunderte Staatsutopie der Region Skandinavien, der sich Björk wie viele Isländer/-innen übrigens nicht zugehörig fühlt, erscheint hier als Hindernis auf dem Weg zu individueller Freiheit.
In der Rückschau, gut 22 Jahre später, erscheint die Video-Ästhetik von
Hunter verblüffend aktuell. Das technisch nahtlos umgesetzte Morphing der Sängerin in einen "Techno-Bären", wie Björk das Tier nannte, ist in ähnlicher Form ein beliebtes Feature von mobilen Fotofilter-Apps geworden. Der androgyne Look ohne spezifische Gender-Codes, in
Hunter noch mit
Maskenbild und CGI realisiert, ist im Pop keine Seltenheit mehr. Wenn Paul White am Ende des Clips Björk in die
Unschärfe entgleiten und in der
Weiß-Blende verschwinden lässt, findet er das perfekte Bild für eine Künstlerin, die sich festen Zuschreibungen nach wie vor zu entziehen weiß.
Autor/in: Jan-Philipp Kohlmann, freier Redakteur und Filmjournalist, 18.09.2020
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