Am 2. Dezember 1983 wird in den USA auf MTV Musikvideogeschichte geschrieben: Der knapp 14-minütige Clip zu Michael Jacksons "Thriller" schlägt neue Wege ein, zeigt nicht nur einen Superstar, der seinen Song tanzend und singend präsentiert, sondern erzählt mit diesem eine Geschichte. Zudem es ist ein Clip, der mit seinem langen
Prolog, der verschachtelten Erzählung zwischen unterschiedlichen Realitätsebenen, den Tanzeinlagen zwischen den
Spielszenen, für die immer auch die Musik unterbrochen wird, und dem Abspann vielmehr an ein Kino-Musical erinnert. Damit unterscheidet er sich deutlich von damals üblichen Performance-Musikvideos zu Promotionzwecken.
Während ein Cabrio durch die Nacht fährt, ist die Tonspur erfüllt von unheimlichen
Tiergeräuschen. Das Auto hält an. Ein junger Mann und eine junge Frau flirten. Nachdem er ihr seine Liebe gestanden und einen Ring überreicht hat, folgt das Bekenntnis: "I am different." Hinter den Wolken wird der Vollmond sichtbar und der Mann verwandelt sich zuckend in eine Art Werwolf – bis sich die Szene als Film im Film entpuppt. In einem Kino sieht sich Michael Jackson mit seiner Freundin einen
Horrorfilm an. Angewidert verlässt die junge Frau das Kino. Mit Einsatz des Lieds versucht Jackson ihr auf dem Heimweg, der an einem Friedhof vorbeiführt, singend die Angst zu nehmen, während Zombies im Nebel ihren Gräbern entsteigen und das Paar umzingeln. Plötzlich hat auch Jackson sich verwandelt und beginnt mit den Zombies zu tanzen. Panisch flüchtet die junge Frau in ein leerstehendes Haus, wo sich ihre Angst als mögliche Einbildung offenbart – jedoch dreht sich Michael Jackson vor dem
Abspann noch einmal zur Kamera, während ein teuflisches Lachen zu hören ist und das Bild im Freeze erstarrt.
Angelehnt an den großen Erfolg seines ebenso gruseligen wie makabren Horrorfilmhits
An American Werewolf in London (1981) hat der Hollywood-Regisseur John Landis das epische Musikvideo mit den für Michael Jackson ikonografischen aufwändigen Tanzchoreografien im Stil eines B-Movies inszeniert, das vor allem in der ersten Hälfte deutliche Anleihen bei
Genre-Klassikern der 1950er-Jahre nimmt. Dazu zählen nicht nur die
theaterhaften Kulissen, sondern auch aus dem Off ein kurzer Sprechtext der Horrorfilm-Ikone Vincent Price, dem auch durch weitere Referenzen im Film Tribut gezollt wird. Zugleich wird auch die von Spezialeffektkünstler Rick Baker gestaltete Metamorphose eines Menschen in ein Monster aus Landis' Werwolf-Film nachgestellt, ein Meilenstein der
Tricktechnik.
Mit geschätzten 500.000 bis einer Million US-Dollar überstieg
Thriller die üblichen Produktionskosten von Musikvideos zur damaligen Zeit um ein Vielfaches und war nur finanzierbar, weil Jackson sich persönlich sehr dafür einsetzte. Aus gegenwärtiger Sicht erscheint dies doppelt makaber: Als Michael Jackson Jahre später wegen Kindesmissbrauch angeklagt wurde, wandelte sich auch sein Bild in der medialen Berichterstattung und öffentlichen Wahrnehmung – vom Superstar zum "Monster".
Autor/in: Stefan Stiletto, Medienpädagoge mit Schwerpunkt Filmkompetenz und Filmbildung, 18.09.2020
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