Die Kindheit eines Hochbegabten
Vitus ist ein außergewöhnlicher Junge, der schon im Kindergarten – gelangweilt von den Spielen der anderen – den Brockhaus studiert und im Alter von sechs Jahren pianistische Fähigkeiten entwickelt wie ein kleiner Mozart. Der Schweizer Filmemacher Fredi M. Murer jedoch blickt hinter die glänzende Fassade dieses "Wunderkindes", dem die Musikwelt bald staunend zu Füßen liegt. In poetischen Bildern, einfühlsam und fantasievoll enthüllt Murer die Bedrängnisse und Sehnsüchte eines hoch begabten jungen Menschen, dessen Leben von elterlichem Ehrgeiz, dem Verzicht auf Freundschaften und von paradoxen Interessenkonflikten geprägt ist. Trotz seiner berechtigten Aussichten auf eine Weltkarriere wünscht sich Vitus nichts sehnlicher als eine ganz "normale" Kindheit.
Erstickende Fürsorge
Die Filmerzählung setzt ein, als der kleine Held, der hier noch von Fabrizio Borsani verkörpert wird, sechs Jahre alt ist. Zu diesem Zeitpunkt ist sein ambitionierter Vater gerade dabei, als Akustiker bei einem Hörgeräte-Konzern Karriere zu machen, und fortan beruflich so eingespannt, dass er für Vitus kaum noch Zeit hat. Seine Mutter, die das erstaunliche musikalische Talent ihres Sohnes erkannt hat, forciert rücksichtslos dessen künstlerische Fortschritte am Klavier. Gegen den Willen ihres Kindes kündigt sie seiner geliebten Klavierlehrerin zugunsten eines prominenteren Lehrers, später entlässt sie sogar das Kindermädchen Isabel, die einzige Freundin des einsamen Jungen.
Nur das Beste für das Kind?
Auf diese Weise entsteht eine eigenartige Situation: Die Mutter will nur das Beste für ihren Sohn, schadet ihm aber mit ihrem Ehrgeiz und ihrem mangelnden pädagogischen und menschlichen Einfühlungsvermögen. Vitus leidet massiv unter ihrer Kontrollsucht und ihren Entscheidungen. So entlarvt Vitus en passant auch eine verkrustete, auf Karrieredenken ausgerichtete und in starren Konventionen verharrende fragwürdige Pädagogik mittels entwaffnender, unbefangener Äußerungen des Helden. Als er einer berühmten Pianistin etwas vorspielen soll, dreht er einfach den Spieß um und entgegnet: "Spielen Sie mir doch was vor!"
Der Großvater als einzige Stütze
Berührend erzählt der Film, wie sich ein begabtes Kind, das von seiner Mutter allein auf Leistung gedrillt wird und deshalb sogar auf Freunde verzichten muss, sich unweigerlich zum Außenseiter entwickelt. Seine Lehrer/innen in der Schule halten ihn für arrogant, weil er sie seine intellektuelle Überlegenheit spüren lässt, bei den Mitschülern/innen macht er sich als Streber unbeliebt. Nur im Großvater, den der grandiose Bruno Ganz als einen liebenswürdigen, eigenwilligen Querkopf spielt, findet Vitus einen treuen Freund und Verbündeten. In seiner Schreinerei bastelt der Alte, der Zeit seines Lebens vom Fliegen träumt, gemeinsam mit dem Enkel Fluggeräte aus Holz, erzählt, wie er selbst mit der Einsamkeit fertig wird, spendet Trost mit zauberhaft-poetischen Geschichten, gibt behutsam Denkanstöße und bewahrt Geheimnisse, die Vitus ihm anvertraut.
Sehnsucht nach Freiheit
Der uralte Traum vom Fliegen – das Abheben vom Boden und das Gefühl des Loslassens - wird unweigerlich auch zur Metapher von Freiheit. Vitus will der bürgerlichen Enge samt ehrgeiziger Mutter, die sein Leben reglementiert, entfliehen. Er sehnt sich nach einem Ort, wo er jenseits artistischen Schaulaufens das Wahrhaftige der Musik entdecken kann. Einen solchen Ort ertrotzt sich der clevere Junge mit einem märchenhaften Coup, der ihm ein Doppelleben ermöglicht: Er simuliert einen schweren Unfall, durch den er scheinbar seine besonderen Begabungen verliert, verschafft sich und seinem finanziell angeschlagenen Großvater Millionen mittels Börsenspekulationen im Internet, kauft sich ein eigenes Loft und einen Konzertflügel, auf dem er ungestört für sich allein üben kann. Zu Hause und in der Schule aber spielt er den "normalen" Jungen, stellt sich absichtlich dumm und unwissend, passt sich dem Musik-Geschmack seiner Mitschüler/innen an. Nur heimlich, in seiner neuen Wohnung oder beim Großvater, hört er Klassik-CDs und reift unterdessen auch an ersten menschlichen Enttäuschungen. Seine Liebe zu der einige Jahre älteren Kindheitsfreundin Isabel, die er in einem Plattenladen wieder trifft, wird nicht erwidert und der geliebte Großvater stirbt plötzlich.
Ein selbst bestimmtes Leben
Am Ende des Films, wenn Vitus sein Doppelleben wieder aufgibt und mit dem Zürcher Kammerorchester Schumanns a-moll-Konzert spielt, steht er doch noch am Anfang einer Weltkarriere – allerdings aus eigener Entscheidung und eigenem Antrieb. Nicht zufällig endet der Film mit derselben Szene, mit der er anfing: Vitus steigt in ein Flugzeug, startet die Maschine und hebt unter den Klängen des Schumann-Konzerts ab, eine Metapher für die neu gewonnene innere Freiheit des jungen Protagonisten. So wird der Film auch zur Hommage an die Musik selbst, die dann am schönsten und wahrhaftigsten erklingt, wenn sie aus innerer Leidenschaft und Überzeugung heraus erlebt und interpretiert wird. Diese Erkenntnis stellt subtil Konventionen des heutigen Musikbetriebs infrage, in dem junge Talente – noch verstärkt durch eine "Klassikkrise" – in die Mühlen von leistungsorientierten Wettbewerben und kommerziellen Interessen der Konzertveranstalter/innen geraten, für deren erfolgreiche Promotion oftmals die Musikalität eines Künstlers weniger ausschlaggebend ist als dessen technische Brillanz, Alter oder Sexappeal. Getragen wird dieser sensible Film von wunderbaren Schauspielern, nicht zuletzt dem rumänischen Klavierwunder Teo Gheorghiu als älterem Vitus, der für Authentizität der musikalischen Einlagen und damit auch für ein künstlerisch hohes Niveau dieses Films bürgt.
Autor/in: Kirsten Liese, 08.12.2006