Hintergrund
Musik im Film – Eine kleine Dramaturgie
Brassed Off - Mit Pauken und Trompeten
Die Männer kämpfen um ihre Arbeitsplätze. Die Grube im nordenglischen Kohlerevier steht vor der Schließung, die Bergleute sind müde und verzweifelt. Dennoch treffen sie sich diszipliniert zu den Proben ihrer Brass-Band. Solche Blaskapellen waren einmal das einzige Kulturangebot in den britischen Bergbau-Städtchen. Je hoffnungsloser die Lage in der Grube wird, desto mehr Hoffnung gibt die Musik. Ihr Ziel ist die Teilnahme an einem Wettkampf der Brass-Bands in der Londoner Royal Albert Hall. Am Ende von Mark Hermans Film
Brassed Off - Mit Pauken und Trompeten (GB 1996) liegt der Trost für die sozial abstürzenden Arbeitnehmer/innen und für die Zuschauenden, die mit ihnen leiden, im Triumph der Blaskapelle.
Jenseits der Stille
Die Liebe zur Klarinette
Für einen taubstummen Vater muss es schmerzhaft sein, wenn die ganze Leidenschaft seiner Tochter einer Sache gehört, an der er nie teilhaben kann. Lara liebt das Klarinettenspiel. Es ist auch Ausgleich für den Verlust ihrer Kindheit, die sie hauptsächlich als Gebärdendolmetscherin der Eltern erlebte. Genau deswegen kommt es zu Konflikten in der Familie. Doch als Lara zur Aufnahmeprüfung im Konservatorium vorspielt, erscheint der Vater im Publikum. Damit führt Caroline Link in ihrem Film
Jenseits der Stille (BR Deutschland 1996) auseinander driftende Interessen und Zuwendungen wie in einer musikalischen Coda zusammen.
Mord im Konzertsaal
Auf dem Höhepunkt einer Kantate soll ein Mann im Konzertsaal erschossen werden. Dann werden Chor und Orchester im Crescendo toben und die Becken zusammengeschlagen. Die Zuschauenden wissen es, auch Doris Day im Parkett der Royal Albert Hall weiß es. Doch sie darf das Opfer nicht warnen, weil sonst ihr Film-Sohn gefährdet ist. In seinem amerikanischen Remake von Der Mann, der zuviel wusste (USA 1955) inszeniert Alfred Hitchcock die Aufführung eines Orchesterwerks als Suspense. Die Kamera erfasst den Schatten des Dirigenten auf der Partitur. Sie fährt die Notenlinien ab, wiederholt die Fahrt in gesteigerter Großaufnahme, zeigt immer wieder die verhängnisvollen Becken. Die anschwellende Musik von Bernard Herrmann und Hitchcocks Montage verschmelzen zu einer dramatischen Einheit.
Uhrwerk Orange
Identität und Emotion
So kann man umgehen mit der Darstellung von Musik im Film, mit der Wirkung von Musik als Stoff des Drehbuchs, als Bestandteil der filmischen Erzählung. Wer als Filmemacher/in Musik im Kino nicht nur als emotionelles Hintergrundrauschen zur Gängelung der Gefühle im Publikum einsetzt, sondern die hoch komplexe Kombination aus dem Stilmittel des Tonfilms, das zugleich Erzählinhalt des Film ist, dramaturgisch nutzt, kann besonders durchschlagende Resultate in der Anteilnahme des Publikums erzielen, denn die Musik selbst leitet die Affekte der Zuschauenden intuitiv und interessiert gleichermaßen rational als Thema. In den beiden ersten Beispielen wird durch dieses Verfahren Identität gestiftet, in einer durch Krisen bedrohten Gemeinschaft und zwischen dieser Gemeinschaft und den Zuschauenden. Im dritten Beispiel enttarnt Hitchcock die emotionalisierende Manipulationskraft des filmischen Musikeinsatzes, um ihn gleichzeitig ungehemmt auf das Publikum loszulassen.
Die Commitments
Verfremdungseffekte
Ähnlich wie Hitchcock verfährt Stanley Kubrick in Uhrwerk Orange (GB 1971), in dem er Beethovens "Hymne an die Freude" als Hit und als Terrormittel zugleich vorführt und filmmusikalisch wirken lässt. Kubrick war ein sehr musikalischer Regisseur, der bei der Auswahl seiner Filmmusiken nichts dem Zufall überließ. Nicht minder musikalisch agierte Sergio Leone in dem berühmten Spätwestern Spiel mir das Lied vom Tod (I 1968). Nicht nur, dass er den Film nach dem Rhythmus des Soundtracks montierte, den Ennio Morricone – anders als man sonst verfährt – nach dem Drehbuch komponiert hatte, bevor die Dreharbeiten abgeschlossen waren. Leone wechselte auch überraschend zwischen den beiden Ebenen Musik im Film und Filmmusik, indem er das Mundharmonika-Thema seines Helden zugleich als illustrative Titelmelodie einsetzte.
Der Pianist
Krisenbereinigung
Meist wird mit Musik im Film aber nicht in derartiger Verfremdungstechnik umgegangen. Sie wird vielmehr häufig so genutzt wie in den beiden ersten Beispielen. So wird die Gründung einer Band für Jugendliche gern zum identitätsstiftenden Ausweg aus sozialen Verwerfungen (
Die Heartbreakers von Peter F. Bringmann, BRD 1982, oder
Die Commitments von Alan Parker, Irland 1990). Auch individuelle Krisensymptome können durch musikalisches Schaffen überwunden werden, sei es, dass sich die asoziale Arroganz eines Dirigenten in einem großen Konzert löst wie in Stanley Donens köstlicher Komödie
Noch einmal mit Gefühl (USA 1953), sei es, dass die lange Trauerarbeit der Witwe eines Komponisten in neue musikalische Kreativität umschlägt wie in
Drei Farben: Blau von Krzysztof Kieslowski (F 1993). Dass ein und dasselbe Instrument einmal als Sonde zur Seelenanalyse einer neurotischen Frau und zum anderen als Überlebenswerkzeug eines von den Nazis gehetzten Juden dienen kann, haben Michael Haneke mit
Die Klavierspielerin (F/Ö 2001) und Roman Polanski mit
Der Pianist (F/BRD/GB 2002) kürzlich am Piano exemplifiziert.
Mit allen Sinnen
Musik im Film hat die Funktion eines Soloinstruments, das gleichzeitig begleitendes Orchester ist. Musik wird zur Diskussion gestellt und mit demselben Gestus ästhetisch als Mittel der Erzählung eingesetzt. Das verzwickte Zusammenspiel macht unter anderem darauf aufmerksam, wie sehr der Film sein Publikum immer wieder in all seinen Sinnen ergreift und manchmal auch überwältigt.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 01.08.2004