"Die Frau auf dem Lastwagen"

Es sind Geschichten wie jene der Danziger Werftarbeiterin Anna Walentynowicz, die Volker Schlöndorff in seinen Filmen immer wieder erzählt hat: Geschichten über Widerstand, Revolten, persönliche Krisen. Walentynowicz, eine kleine Frau aus einfachen Verhältnissen, rief mit ihren hartnäckigen Protesten gegen die Missstände im sozialistischen Polen einen landesweiten Streik hervor. Sie setzte weltpolitische Prozesse in Gang – und wurde doch im Gegensatz zu ihrem Mitstreiter Lech Walesa von der Weltgeschichte nahezu vergessen. Ein Pressefoto von der Besetzung der Danziger Werft im Jahr 1980 bezeichnete sie lediglich als "Frau auf dem Lastwagen". Dieser Frau, an deren Entlassung sich der Streik entzündet hatte, wollte Schlöndorff ein filmisches Denkmal setzen. Zugleich beabsichtigte er ein wichtiges Zeichen der Dankbarkeit im deutsch-polnischen Dialog, hatte doch die von Walentynowicz mitbegründete Gewerkschaft Solidarność nicht weniger bewirkt als jene allmähliche Aufweichung des Ostblocks, die schließlich den Zusammenbruch des Staatssozialismus und damit die Aufhebung der deutschen Teilung zur Folge hatte.

Aus Anna wird Agnieszka

Nicht gerechnet hatte der deutsche Regisseur mit dem neuerlichen Widerstand der resoluten Kämpferin, die ihren Platz in seiner Reihe starker Frauenfiguren nicht ohne Weiteres einnehmen wollte und gegen einige Darstellungen schon vorab massiv Einspruch erhob. Ähnlich war es Schlöndorff nach (D 1999) bereits mit der Ex-Terroristin Inge

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Viett ergangen. Darum heißt Anna Walentynowicz in seinem Film nun Agnieszka. Gespielt wird sie von Katharina Thalbach, mit der er bereits vor knapp dreißig Jahren in Danzig seinen Welterfolg Zum Filmarchiv: "Die Blechtrommel" (BRD 1979) gedreht hatte. "Strajk" beginnt 1961. Für die Funktionäre der Danziger Lenin-Werft ist Agnieszka ein echter Quälgeist. Die scharfzüngige Kranführerin lässt sich nichts vormachen. Gegen schlechte Löhne und fatale Arbeitsbedingungen meldet sie regelmäßig Protest. Oft mit Erfolg, denn einer mehrfachen "Heldin der Arbeit" kann man schlecht etwas abschlagen. Agnieszka, fleißig und gewissenhaft, glaubt an den Sozialismus ebenso wie an die katholische Kirche, was ihr bei der Bewältigung ihres harten Lebens hilft. Die allein stehende Kriegswaise hat einen Sohn zu versorgen. Eine spätere Ehe mit dem freundlichen Werftkollegen Kazimierz endet schmerzlich mit dessen frühem Tod.

Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung

Mit eindrucksvollen, dunklen Bildern kontrastiert Schlöndorff in dieser Handlungsphase die kalte Maschinenwelt der Werft mit Agnieszkas ärmlichen, jedoch in warmen Zum Inhalt: FarbgestaltungFarben liebevoll ausgestattetem Heim. Im großen epischen Bogen führt der Film darauf durch die Geschichte der polnischen Arbeiterproteste der 1970er-Jahre. Nach einschneidenden Erlebnissen und der Erfahrung grober Ungerechtigkeit wird die oft am Boden zerstörte Arbeiterin nun zur "Heldin wider Willen". Ein Werftunglück mit 21 Todesopfern ist

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der Auslöser. Die Werftleitung weist alle Schuld von sich und verweigert den Hinterbliebenen die Rentenzahlung. Auf Agnieszkas anhaltende Proteste hin wird sie schließlich nach 30-jähriger Werkszugehörigkeit entlassen. Doch mittlerweile hat sie Mitstreiter/innen gefunden, den aufsässigen Elektriker Lech – unschwer als Lech Walesa zu erkennen – sowie eine kleine Gruppe systemkritischer Intellektueller. Und im ganzen Land formiert sich Widerstand gegen die schlechten Lebensbedingungen. Die Wahl des Krakauer Erzbischofs Karol Wojtyla zum "polnischen Papst" Johannes Paul II. gibt nicht nur der frommen Katholikin, sondern der gesamten Demokratiebewegung zusätzlichen Auftrieb. In dessen nationalem Zentrum, der Danziger Werft, bildet sich die unabhängige Gewerkschaftsbewegung Solidarność. Es dominieren nun aufrüttelnde Massenszenen. Um Agnieszkas Wiedereinstellung zu erreichen, legen die 16.000 Beschäftigten der Leninwerft die Arbeit nieder. Und an jenem entscheidenden Tag im Jahr 1980 ist Agnieszka die "Frau auf dem Lastwagen", die ihre Kollegen gegen die Vorsicht Lechs zur Fortsetzung des Streiks ermuntert: Es geht nicht mehr nur um Löhne. Es geht um Meinungsfreiheit, Mitbestimmung und Demokratie.

Der Geist des politischen Widerstands

Strajk ist ein mitreißender Geschichtsfilm, der komplexe politische Zusammenhänge einem fast schon ikonischen Heldinnenbild unterordnet. Thalbachs energetische Darbietung treibt die Handlung voran. Die Motivationen der Partei oder der staatlichen Gewerkschaften bleiben dagegen wenig beachtet oder werden gar auf Persönliches herunter gebrochen: Der örtliche Gewerkschaftsvorsitzende Sobecki ist der Vater von Agnieszkas Sohn. Mit dieser perspektivischen Begrenzung

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bewegt sich Schlöndorffs "Ballade nach historischen Ereignissen" durchaus im Rahmen vergleichbarer Filmbiografien wie Zum Filmarchiv: "Operation Walküre – Das Stauffenberg Attentat" (USA 2009). An einem "Dokumentarfilm" war ihm nach eigener Aussage nicht gelegen. Auch die im Film verstreuten historischen Archivaufnahmen stärken eher den emotionalen Effekt, indem sie der warmherzig erzählten Geschichte authentischen Mehrwert verleihen. Der rastlose Zum Inhalt: MontageSchnitt, mit dem die Zeitsprünge überdeckt werden, und die gelegentlich etwas aufbrausende Zum Filmarchiv: "Musik" von Jean Michel Jarre suggerieren sich überstürzende Ereignisse selbst dort, wo sie sich vielleicht eher im Stillen vollzogen. Schlöndorff geht es um den Geist des polnischen Widerstands: Neben den Härten des realsozialistischen Alltags waren emotionale Affekte, vor allem nationales und religiöses Pathos, dessen entscheidende Triebfeder.

Rezeption in Polen und Deutschland

War Schlöndorff mit der deutschen Verfilmung eines polnischen Reizthemas ein großes Wagnis eingegangen, stieß "Strajk – Die Heldin von Danzig" in Polen doch überwiegend auf Wohlwollen. Kritik entzündete sich allenfalls an der ungenauen Darstellung historischer Figuren –

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etwa des stets umstrittenen späteren Staatspräsidenten Lech Walesa. Skepsis gegenüber der Emotionalisierung und Simplifizierung von Geschichte wurde dagegen vornehmlich in Deutschland laut. Im Unterricht kann "Strajk" in ein erstes Verständnis polnischer und europäischer Geschichte einführen. Zudem bietet die interessante Rezeptionsgeschichte des Films ebenso Diskussionsstoff wie Schlöndorffs letztlich geglückte Aufarbeitung seiner klassischen Themen: Widerstand und Rebellion. Sie ermöglichen, und sei es nur für kurze Zeit, den Ausbruch aus einengenden Verhältnissen. Die Früchte, auch das macht dieses aufregende Zeitbild deutlich, ernten oft erst die Nachkommen.

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Unterrichtsmaterial