Interview
Wie ein Wunder
Ein Gespräch mit Norman Jewison
Das Interview führte Margret Köhler.
Interviewpartner: Norman Jewison
Wie kam es zur Verfilmung des menschlichen Dramas und zum Kontakt mit Rubin 'Hurricane' Carter?
Schon als ich in den 60er Jahren In der Hitze der Nacht drehte, las ich über den Fall Rubin Carter; damals galt jeder Farbige, der das System verändern und sich nicht mehr diskriminieren lassen wollte, als Krimineller. Malcolm X, Martin Luther King oder Rubin Carter, sie alle waren Opfer. Dann kam Bob Dylans Song "Hurricane" in den 70er Jahren, der eine ganze Generation elektrisierte, die ihre Utopien von Gleichheit und Gerechtigkeit verwirklichen wollte. Mein Interesse besteht also seit Beginn der Affäre. Vor zehn Jahren wollte ich schon einmal die Geschichte verfilmen, leider fehlte dem Produzenten das Geld. Als mir dieses Projekt angeboten wurde, griff ich sofort zu. Rubin Carter stand uns von Anfang an als Berater zur Seite, ohne ihn hätte der Film nicht in dieser Intensität entstehen können. Unsere erste Begegnung werde ich nicht vergessen: Nach dem, was man ihm angetan hatte, erwartete ich einen Mann voller Hass und Rachegefühle. Schließlich saß er neunzehn Jahre unschuldig im Gefängnis, zerstörte die Justiz sein Leben. Er bekam noch nicht mal einen Dollar Entschädigung. Aber Carter wandelte sich zu einer sehr charismatischen Persönlichkeit, ist weniger ein Kämpfer denn ein Philosoph, erinnert mich in seinem Gleichmut an Gandhi und Krishna Murti.
Inwieweit entspricht der Film den wahren Ereignissen?
Wahrheit ist ein bewegliches Ziel. Manche Aussagen der in den Fall Involvierten widersprachen sich. Es kommt immer auf den Blickwinkel an. Ich habe u. a. die Gruppe der Kanadier von neun auf drei reduziert, einen weiteren Anwalt rausgelassen. Es ging mir nicht um Fakten-Sammeln und Aufzählen. Hurricane ist kein Dokumentarfilm, sondern ein Spielfilm, der die Zuschauer unterhalten und berühren soll. Für das Verständnis schien es mir einfacher, die Geschichte auf Rubin und Lesra zu konzentrieren. Zwischen ihnen besteht eine besondere Beziehung. Warum war Carters Autobiografie "The Sixteenth Round" das erste Buch, das der Junge las? Warum öffnete Carter, der Hunderte von Briefen bekam und sie ungelesen wegwarf, ausgerechnet diesen Brief? Weil ihm die Briefmarke mit der englischen Königin auffiel, erzählte er mir. Das Ganze erscheint mir eine Ansammlung von mysteriösen Zufällen, wirkt wie ein Wunder.
Mit Filmen wie In der Hitze der Nacht oder Sergeant Waters – Eine Soldatengeschichte greifen Sie gesellschaftliche Themen wie Unrecht und Diskriminierung auf. Wie kommt ein Kanadier dazu, sich mit der US-Gesellschaft zu beschäftigen?
Als 17-Jähriger bin ich neugierig und naiv durch die Südstaaten der USA getrampt und wurde erstmals mit Rassendiskriminierung konfrontiert. Es wollte nicht in meinen Schädel hinein, dass Farbige zwar in der Army für die US-Gesellschaft kämpfen und ihr Leben riskieren sollten, aber man ihnen zuhause noch nicht einmal das Wahlrecht zugestand. Mich reizen Geschichten über soziale Befindlichkeiten; gerade in der Wechselwirkung von Individuum und sozialer Umwelt steckt Brisanz.
Könnte sich ein Fall wie der von Rubin Carter heute wiederholen?
Vielleicht nicht in dieser krassen Form, aber ausschließen würde ich das nicht. Der Rassismus stellt sich heute subtiler dar. Hätte mir vor 30 Jahren jemand gesagt, ein farbiger Politiker wie Jesse Jackson kandidiert für das Präsidentenamt oder Colin Powell steigt zum obersten General der Truppen auf, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Amerika hat sich geändert, leider noch nicht genug. Amerikaner sind stolz auf ihre Verfassung und Bürgerrechte, aber was nützen die schönsten Gesetze auf dem Papier, wenn der alltägliche Rassismus in den Köpfen weiter besteht? Dieser permanente Ruf nach "political correctness" verdeckt doch nur die tiefen Vorurteile gegen Minoritäten, die Verunsicherung gesellschaftlichem Wandel gegenüber.
Ihr Film stieß auf teilweise aggressive Reaktionen in den USA.
Die Figur von Rubin Carter rief immer Kontroversen hervor. Natürlich sind die ewig Gestrigen unzufrieden, dass der Mann in Freiheit ist, weil damit auch ein Stück US-Justiz am Pranger steht. Schließlich war die Jury 1967 nur aus Weißen zusammengesetzt. Vor allem in New Jersey polemisieren die Zeitungen gegen den Film, weil sich der New Jersey State Supreme Court in diesem Fall nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat.
Autor/in: Margret Köhler, 08.12.2006