Hintergrund
Vom Horror zur Mystery
Der fantastische Film hat sich in den hundert Jahren des Kinos in drei Hauptlinien ausdifferenziert : Im Science-Fiction Film wartet das Fantastische "da draußen" oder wird die Zukunft nach dem Prinzip des "Was wäre, wenn?" befragt. Im Horrorfilm lauert das Fantastische in den Nischen und Gewölben darauf, in das Alltagsleben der Menschen einzubrechen, bis es durch allerlei magische Rituale oder durch ein Opfer wieder in die Unterwelt verbannt werden kann. In der Fantasy wird das Fantastische zur selbstverständlichen Voraussetzung – es ist Realität. Der Thriller definiert sich dagegen dadurch, dass sich zwar gelegentlich die Bereiche von Wahn und Wirklichkeit überschneiden, es für alles aber eine rationale, psychologische Erklärung gibt.
Rendezvous mit Joe Black (Regie: Martin Brest)
Vermischung der Genres
Zwischen den oben genannten Genres hat es in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder thematische und stilistische Verknüpfungen gegeben und Filme, die sich auf dem Markt behaupteten, indem sie die "Regeln" eines Genres brachen und sich Erklärungsmodelle oder Konstruktionsprinzipien von einem anderen borgten: Science-Fiction-Filme, die sich in der Nachfolge von Alien mit Elementen des Horrorfilms aufluden, Thriller in der beinahe endlosen Reihe nach Halloween, deren psychopathische Mörder nicht mehr als wirkliche Menschen zu erklären waren und daher zum wiederkehrenden "absoluten Bösen" werden mussten, Horrorserien wie Evil Dead, die sich nach einer wahnwitzigen Horrorfahrt durch das Science-Fiction-Element der Zeitreise in puren Fantasy-Welten weiter bewegten. Diese Crossover kann man als typisches Produkt des postmodernen Kinos sehen, das von der Genre-Mischung ebenso zehrt wie von dem Vergnügen des Spiels mit Verweisen und Zitaten und mit mehr oder weniger subtiler Selbstironie.
The Sixth Sense (Regie: M. Night Shyamalan)
Ein neues Subgenre: Mystery
Das jüngste Subgenre des fantastischen Films, das sich als ausgesprochen erfolgreich erwiesen hat, erhielt den Namen "Mystery". Es beschreibt keine bestimmten "Regeln" im Umgang mit dem Übernatürlichen oder Unerklärlichen und kann vieles bedeuten: die Anwesenheit einer außerirdischen Verschwörung, von der nur wenige wissen, wie in der Serie "Akte X", die Vermischung der Welt als Wille und Vorstellung, das Wirken geheimnisvoller Kräfte in der alltäglichen Welt, das Reisen in das Innere einer anderen Seele, Besuche von Engeln und Teufeln auf der Erde, sogar des Todes höchstpersönlich, wie in Rendezvous mit Joe Black, Zwischenreiche zwischen dem Wirklichen und dem Jenseitigen, in denen es schwer fällt, die Lebenden von den Toten zu unterscheiden, wie in The Sixth Sense. Mystery scheint also mehr eine Erzählweise, eine Stimmung zu beschreiben, als eine thematische Einheit.
Poltergeist (Regie: Tobe Hooper)
"Softcore-Horror"
Das "neue" Genre Mystery war zunächst eine Reaktion auf eine ganz andere Tendenz des fantastischen Films, die in den 70er Jahren mit Filmen wie The Texas Chainsaw Massacre oder Dawn of the Dead begann. Die "jungen Wilden" des amerikanischen Independent Films führten den Horror so nah wie nie zuvor an unsere Wirklichkeit. Die amerikanischen und italienischen B-Film-Regisseure machten daraus eine "nihilistische" Ästhetik des unbarmherzigen, detailreichen Zeigens von Gewalt und Ekel. Dieser Hardcore-Horror brach die Übereinkunft; er gewann zwar vor allem bei jüngeren Menschen über die Sensation (wieviel halten wir noch aus?) einen Kult-Status, war aber in dieser Form im Mainstream nicht mehr vermittelbar. Er hatte, nach den großen Schocks des Anfangs, schlicht aufgehört, etwas über die Welt, in der wir leben, zu erzählen. So entstand in den 80er Jahren als Gegenbewegung eine Form von Softcore-Horror in Serien wie Poltergeist oder Nightmare in Elm Street, die den Traumcharakter ihrer Visionen betonten: Statt das Dämonische in den Alltag zu schicken, entwickelten sie einen Sog ins Jenseitige und Traumhafte und was in dieser Parallelwelt geschah, schien zugleich dem Handbuch des Schreckens und dem der Psychoanalyse entnommen.
Überwindung des Grauens
Eine andere Form des Softcore-Horrors bildeten die zahllosen Verfilmungen von Stephen King-Stoffen, die man am ehesten als "therapeutischen Horror" bezeichnen könnte: Das (amerikanische) Kleinbürgertum lernte zu verarbeiten, dass auch in den klinisch sauberen Vorstädten unaufgearbeitete Probleme in Kellern und Friedhöfen lauerten. Dieser Horror bedeutete nicht gleich den Untergang der Gesellschaft; das Grauen konnte überwunden werden, wenn die Familie lernte, zueinander zu stehen. Gegen diesen "weichen" Horror stand in den 80er und 90er Jahren allenfalls noch die Linie der harten Höllenmärchen eines Clive Baker, die Visionen vom "neuen Fleisch" bei David Cronenberg oder der Horror-Slapstick in der Art von Braindead.
Lost Souls (Regie: Janusz Kaminski)
Die Wiederentdeckung der Seele
Die Mystery der 90er Jahre nährt sich aus allen diesen Quellen und nimmt doch einige entscheidende Veränderungen vor. Wenn es im Hardcore-Horror vor allem um den Körper ging, im Softcore-Film dagegen eher um die Person, die Rolle im Familienroman, um Verwundungen durch kaputte Familien, böse Medienträume und sogar die Erinnerungen an den Vietnamkrieg (wie in House), so geht es in den Filmen des Mystery-Booms fundamentaler um die Seele als "unsterbliche" Einheit. Die "Lösung" im Hardcore-Horror ist "Überleben" (und meist gelang nicht einmal das); die "Lösung" im Softcore-Horror ist "Liebe", die in der Scream-Renaissance des Genres ist Ironie. Die "Lösung" des Mystery-Films der letzten Jahre aber ist eine Form der Gnade und (Selbst-) Erkenntnis. Man sieht sich gleichsam von der anderen Seite des Spiegels.
Suche nach "schönen" Bildern
Zur Ästhetik dieser Filme gehört es, dass nicht nur die Grenzen zwischen den Zuständen des Diesseits und des Jenseits fließend werden, sondern dass die Verhältnisse auch auf beiden Seiten zur Unübersichtlichkeit tendieren. Religiöse Bilder explodieren förmlich, mehr oder minder komisch etwa in Dogma, wo Engel, Apostel, Musen und Gottesbilder durcheinander purzeln, mehr oder minder ernsthaft in God’s Army, wo die Engel des Himmels einen blutigen Krieg untereinander führen, weil sie auf die Menschen eifersüchtig sind, denen Gott eine Seele gegeben hat. Während der Hardcore-Horror die Welt als besonders hässlich darstellte und der Softcore-Horror sich um Realismus bemühte, ist der neue Mystery wieder auf der Suche nach dem bizarren aber auch "schönen" Bild. Er emanzipiert sich zugleich vor der grimmigen, kranken Körperlichkeit des harten Horrorfilms, als auch von den eindeutigen "pädagogischen" Modellen des Softcore-Horrors. Es ist ein (Sub-) Genre, das nach Bildern sucht, die einerseits schön sind und andererseits eine forcierte Eindeutigkeit vermeiden. Mystery ist daher auch ein vielgestaltiger Entwurf, das Religiöse, das Mythische und das Psychische, das die anderen Genres durch ihre Ästhetik der Grenzüberschreitungen definierten, neu zusammenzusetzen.
Angstlust
Die Mystery-Linie entwickelt sich in einer Zeit, in der das fantastische Kino – und der Horrorfilm im Besonderen – seine Ikonographie, seine genrespezifische "Mitte" weit gehend verloren hat. Nostalgische Stimmungsmalereien, wie Tim Burtons Sleepy Hollow, stehen neben dem geschickt lancierten Minimalismus des Blair Witch Project, computerunterstützte Special Effects-Orgien, wie in The Mummy, neben dem selbstreflexiven Serien-Slasher, wie in Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast. Das Subgenre bewegt sich in der in Bewegung geratenen Bildwelt der Fantastik am freiesten. Auf die Angstlust vor der körperlichen Versehrung, der Wiederkehr verdrängter Monstren folgt die Lust an fantastischen Grenzüberschreitungen, an absurden Vertauschungen von Perspektiven und sogar Geschlechtern wie in Being John Malkovich. Es ist wie eine Vorahnung einer neuen Spiritualität: Die soziale Existenz ist nicht mehr das verlässliche Zentrum eines Lebens.
Unbreakable (Regie: M. Night Shyamalan)
Selbsterfahrung als einsame Helden
Sich selbst erfahren heißt nun auf der einen Seite, an die Grenzen des endlosen Medientraums zu gelangen, hinaus aus der Truman Show, hinaus aus der Matrix, andererseits aber auch hinaus über den Rand der "normalen" Existenz im Newton-Kosmos, den die Medien selbst schon längst verlassen haben: Mystery bedeutet auch, dass der Mensch versucht, auf eine spirituelle und kritische Weise mit der Entwicklung der Medien und ihrer Wahrnehmung Schritt zu halten. Mussten die Protagonisten des klassischen Horrors am ehesten mit ihrer Lust und mit ihrer Angst, mit ihren "verbotenen" oder unterdrückten Impulsen fertig werden, so ist das Grundproblem der Protagonisten des Mystery-Zweiges die Einsamkeit (selbst ein Kerl wie Bruce Willis erfährt in Unbreakable vor allem das Alleinsein). Sie sind so einsam, dass sie buchstäblich über sich selbst hinausgelangen müssen, um ein Echo in der Welt zu erhalten. Im Kino, möglicherweise.
Autor/in: Georg Seeßlen, 01.01.2001