Hintergrund
Schule im Wandel - Die Pisa-Studie und ihre Folgen
Selten ist in der Öffentlichkeit so intensiv über Schule und die bestmögliche Erziehg und Ausbildung diskutiert worden wie in den letzten Monaten. Kaum eine Woche, in der nicht neue Vorschläge gemacht werden, wie die Qualität des Unterrichts verbessert oder Kinder gemäß ihren Fähigkeiten und Interessen gezielter gefördert werden können. Auslöser dieser Debatte ist die internationale PISA-Studie ( P rogramme for I nternational S tudent A ssessment) aus dem Jahr 2002, an der in 32 Staaten rund 180.000 Mädchen und Jungen im Alter von 15 Jahren teilnahmen, davon 5.000 aus Deutschland.
Untersuchungsschwerpunkte
In der Studie wurde untersucht, wie gut Schüler/innen geschriebene Texte in ihren Aussagen, Absichten und ihrer formalen Struktur verstehen (Lesekompetenz), verständnisvoll mit Mathematik und mathematischen Werkzeugen umgehen (Mathematische Grundbildung) und naturwissenschaftliches Wissen anwenden können (Naturwissenschaftliche Grundbildung). In allen drei untersuchten Bereichen liegen die Leistungen deutscher Jugendlicher unterhalb des Durchschnitts aller beteiligten Staaten. Bemerkenswert ist dabei insbesondere, dass eine große Anzahl sehr schwacher Schüler einer relativ großen Anzahl von Schülern gegenübersteht, die der höchsten Leistungsstufe angehören. Diese polarisierende Streuung ist durchweg höher ist als in anderen Ländern.
Mangelhafte Lesekompetenz
Besonders auffällig ist, dass 23 % der deutschen Jugendlichen bei der Lesekompetenz lediglich die niedrigste Leistungsstufe erreichen oder darunter liegen. Fast ein Viertel der Jugendlichen ist demnach nur fähig, auf einem elementaren Niveau zu lesen, den üblichen Auswahltests für einen Ausbildungsplatz sind diese Jugendlichen nicht gewachsen. Die Mehrheit der leistungsschwachen Schüler ist männlich und stammt aus sozial schwachem Milieu, insbesondere bei Kindern von Migranten ist die sprachliche Integration unzureichend.
Kein Land der Dichter und Denker?
Die nationale PISA-Ergänzungsstudie (PISA-E), an der 50.000 Jugendliche teilnahmen, zeigt, dass zwischen den einzelnen Bundesländern in Deutschland große Unterschiede bestehen. In Bremen kommen beispielsweise 36 % der 15-Jährigen kaum über das Leseniveau von Grundschülern hinaus, in Nordrhein-Westfalen sind es fast 25 %, in Bayern knapp 15 %. Bayern gelingt es zwar, in der Lesekompetenz über den OECD-Durchschnitt hinauszukommen, doch im Vergleich mit der Spitzengruppe anderer Staaten – darunter Finnland, Kanada und Japan – bleibt auch dieses Bundesland nur im Mittelfeld. Bezeichnend ist, dass 42 % der 15-Jährigen in Deutschland nicht gern lesen. Mit diesem Wert ist das Land der Dichter und Denker im internationalen Vergleich Spitzenreiter.
Soziales Gefälle
Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb ist in Deutschland besonders ausgeprägt: In keinem der 32 PISA-Länder sind die Unterschiede in der Lesekompetenz zwischen Jugendlichen aus höheren und niedrigeren Sozialschichten – aus sozial schwachen Familien, Ausländer- und Migrationsfamilien – so groß. Anderen Staaten gelingt es offensichtlich besser, gleiche Bildungschancen herzustellen und ein höheres Kompetenzniveau zu erreichen. In den Bundesländern mit höherem Ausländeranteil fallen die Leistungen in allen Aufgabenfeldern des Tests deutlich ab. Die Schulen scheinen Probleme zu haben, heterogene Gruppen von Schülern angemessen zu fördern und zu fordern. Dies belegen auch die hohen Zahlen der Schüler, die eine Klasse wiederholen oder die Schule wechseln.
Angestrebte Verbesserungen
In der Diskussion um die Konsequenzen der PISA-Studie besteht Einigkeit darüber, dass die Erziehung in Kindergarten, Vorschule und Grundschule erheblich verbessert und dafür mehr Geld ausgegeben werden muss. Übereinstimmend wird gefordert, für Kinder von Migranten und für solche aus zerrütteten Familienverhältnissen besondere Bildungsanstrengungen zu unternehmen. Um Kinder verstärkt nach ihrem Leistungspotenzial fördern zu können, muss nach Meinung der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn, außerdem mehr für die Lehrerfortbildung getan und die Qualität des Unterrichts verbessert werden.
Frontalunterricht als Lernblocker
Umfragen zeigen, dass Schüler den lehrplan- und lehrerzentrierten Unterricht ablehnen und stattdessen die Schulstunden mitgestalten möchten. Den traditionellen Frontalunterricht mit seiner passiven Form des Lernens finden sie langweilig und ermüdend. Ergebnisse der Lernpsychologie bestätigen diesen Befund: Optimales Lernen ist individuelles und aktives Lernen. In einer entspannten Lernumgebung lernen Schüler schneller und besser. Und: Kinder und Jugendliche lernen am liebsten voneinander. Besonders in der Pubertät sind die Freunde und die Peer-Group die interessantesten Gesprächs- und Lernpartner.
Förderung von eigenverantwortlichem Lernen
Neue Unterrichtsmethoden, die auf diesen Erkenntnissen basieren, werden beispielsweise an der Fritz-Karsen-Schule in Berlin in die Praxis umgesetzt. Vokabellernen, das geht in der 8. Klasse jetzt so: Die Schüler bilden einen inneren und einen äußeren Kreis und fragen sich gegenseitig die Vokabeln ab. Wenn die Lehrerin ein Zeichen gibt, werden Plätze und Rollen gewechselt. Wer ein Wort nicht richtig weiß, lässt sich von seinem Lernpartner verbessern, ohne dass die Lehrerin eingreifen muss. Das Ziel des Trainings heißt eigenverantwortliches Arbeiten und Lernen.
Größerer Handlungsspielraum
In einigen Schulen gibt es inzwischen einen genauen Fahrplan, in welcher Klasse die Schüler mit neuen Lernmethoden vertraut gemacht werden. Hintergrund ist das Projekt "Schule & Co", an dem sich 52 Schulen in Nordrhein-Westfalen beteiligt haben. Die Lehrer hatten ein Jahr lang Zeit, die herkömmlichen Stoffpläne mit den neuen Methoden des "eigenverantwortlichen Lernens und Arbeitens" zu verbinden. Im laufenden Schuljahr begann an über 300 nordrhein-westfälischen Schulen mit dem Projekt "Selbstständige Schule" ein weiterer Großversuch. Unter dem Motto "Gestalten statt verwalten" sollen Lehrer und Schulen selbst die Qualität ihres Unterrichts bestimmen. Dafür bekommen die Schulen Handlungsfreiheit in der Verwendung ihres Budgets, in der Gestaltung des Unterrichts, der Stundentafeln und in der Personalentwicklung.
Gewandeltes Rollenverständnis des Lehrers
Mit der Form des Lernens und des Unterrichts ändert sich auch die Rolle der Lehrer/innen. Sie werden zum Coach und Lernberater und moderieren das Team ihrer Schüler/innen. Wie das in der Praxis aussehen kann, zeigt das Beispiel der Helene-Lange Schule in Wiesbaden. Das ehemalige Gymnasium ist heute eine Gesamtschule und hat die im PISA-Vergleich führenden Koreaner in den Naturwissenschaften um mehr als ein Schuljahr überholt. Die Schule hat sich nach schwedischem Vorbild in viele kleine "Schulen in der Schule" aufgeteilt, in denen Lehrer/innen in Teams zusammenarbeiten. Ob Projekt oder traditioneller Unterricht: Nach jeder Einheit überlegen die Schüler/innen, wie sie die Ergebnisse auf Schautafeln, als Inszenierung oder Broschüre den Eltern präsentieren. Offener und moderierter Unterricht, Arbeitsgemeinschaften und "Lernbüros", die viel Raum und Zeit für Gespräche bieten, sind Elemente des nachhaltigen Lernens. Manchmal konzentrieren sich die Schüler mehrere Wochen ausschließlich darauf, ein Theaterstück einzuüben, getreu Jean Jacques Rousseaus Empfehlung "Zeit verlieren, heißt Zeit gewinnen".
Autor/in: Hanns-Jörg Sippel (punctum, Bonn), 01.01.2003