Kinder- und Jugendfilme sind ein unverzichtbarer Grundbestandteil der Film- und Mediensozialisation Heranwachsender. Dabei hat sich der Kinder- und Jugendfilmbereich international vor allem seit den 1990er-Jahren deutlich ausgedehnt und weiterentwickelt. Der Wandel bezieht sich auf veränderte Marktbedingungen und Zielgruppenprofile ebenso wie auf Rezeptionsweisen, Gestalt und Machart dieser Filme. Auch hierzulande hat sich im Zuge des allgemeinen Aufwärtstrends im deutschen Film viel getan, wofür die Vergabe des Deutschen Filmpreises an den besten Kinder- und Jugendfilm seit 2000 nur ein Indiz ist. Allerdings finden diese Konsolidierungen vor allem im Segment der "großen" Kinofilme wie zum Beispiel
Der kleine Eisbär 1 und 2,
Emil und die Detektive,
Bibi Blocksberg,
Das fliegende Klassenzimmer,
Das Sams I und II sowie
Die wilden Kerle, Teil 1 bis 4. statt. Sie verdanken ihre beachtlichen Erfolge an der Kinokasse meist Adaptionen bekannter Kinderbuchstoffe oder den Verfilmungen (multi-)medial bereits bekannter und beliebter Kunstfiguren. Gegen die Marken des amerikanischen Mainstream aus den Studios von Disney, Pixar und DreamWorks vielleicht nur begrenzt konkurrenzfähig, treffen solche Filme inhaltlich und stilistisch offensichtlich die Vorlieben hiesiger Publikumsschichten, mit entsprechenden Schau- und Unterhaltungswerten bis hin zum so genannten Family Entertainment für die ganze Familie.
Dagegen mangelt es im Segment des Arthouse-Kinos an der Verfügbarkeit "kleinerer" bis "mittlerer" Kinder- und Jugendfilme, die auch "ernsthafte", originäre Stoffe aufgreifen, ihre Geschichten aus Kindersicht erzählen und nicht allein auf den Unterhaltungswert ausgerichtet sind. Der Blick beispielsweise auf die entsprechenden Film- und Kinobereiche in Großbritannien, Frankreich und den Benelux-Ländern, vor allem aber auf die erstaunliche Quantität und Qualität von Kinder- und Jugendfilmen aus den skandinavischen Ländern macht unübersehbar deutlich, dass es an einer Markenbildung "Kinderfilm made in Germany" immer noch weitgehend fehlt. Im Gegensatz dazu verschafften die nordischen Länder der vielfältigen heimischen Filmproduktion neben einer hohen künstlerischen Qualität auch eine wirtschaftlich relevante Kinopräsenz - durch jahrzehntelange umfassende Förderung des Kinder- und Jugendfilms und dessen konsequente Einbindung in die jeweilige Kinder- und Jugendkultur.
Das junge Publikum, Fachleute und Jurys sind von den Highlights der neuesten internationalen Kinder- und Jugendfilmproduktionen, die ihnen alljährlich auf der Berlinale vorgestellt werden, in der Regel begeistert. Das breite Spektrum der gezeigten Filme bietet ein einmaliges Fenster zur Welt mit oftmals besonderer künstlerischer Handschrift, außergewöhnlichen Geschichten und gesellschaftlich relevanten Themen. Sie beflügeln die Fantasie und sind zugleich der Erfahrungsrealität und den Perspektiven von Kindern und Jugendlichen verpflichtet. Nach dem Festival jedoch ist die Mehrzahl dieser wunderbaren Filme hierzulande bis auf weiteres leider nicht mehr oder nur sehr schwer zugänglich.
Es dauert lange und bedarf oft vielfältiger Vermittlungsbemühungen, bis selbst preisgekrönte Publikums- und Kritikererfolge des Festivals bei uns ihren Weg ins Kino finden. Das zeigt neben dem in dieser Kinofenster-Ausgabe besprochenen norwegischen Film
Die Farbe der Milch aus dem Kinderfilmwettbewerb der Berlinale 2005 zum Beispiel auch Niels Arden Oplevs herausragendes Schuldrama
Der Traum (Drømmen) aus Dänemark, das den Gläsernen Bären der Kinderjury 2006 erhielt. Mehrfach waren für diesen Film vom deutschen Verleih bereits Kinostarttermine genannt worden, die jedoch beispielsweise wegen Blockbuster-Filmstarts verschoben werden mussten, und der nun hoffentlich wie angekündigt Anfang April 2007 endlich in unseren Kinos anlaufen wird. Von der Bundeszentrale für politische Bildung ist dazu ein Filmheft in Vorbereitung. Beide Beispiele machen die großen Vermittlungsverdienste der Festivals, aber auch die enormen Schwierigkeiten dieser Art von kinobezogener Kinderfilmdistribution mehr als deutlich.
Zwei Projekte der Kinder- und Jugendfilmsektion der Berlinale zeigen, wie Festival, Kinder- und Jugendkino sowie andere Vermittlungs- und Distributionswege Gewinn bringend zusammenfinden können. Beide setzen an der Schwachstelle mangelnder Verfügbarkeit von Festivalfilmen an; sie zielen darauf, Lehrern/innen sowie allen an Kinderfilmkultur und Jugendfilmarbeit Interessierten Möglichkeiten zu eröffnen, empfehlenswerte Sektionsfilme auch außerhalb des laufenden Festivalprogramms zu sehen und mit ihnen praxisnah zu arbeiten. Zum einen geht das filmpädagogische Schulprojekt jetzt in die dritte Runde (siehe Beitrag in dieser Kinofenster-Themenausgabe). Zum anderen bereitet das Festival anlässlich des 30. Jubiläums der Sektion für den Herbst 2007 die DVD-Edition Berlinale Generation vor, eine Kooperation mit den Vertriebsfirmen absolut Medien und Matthias-Film, um erfolgreiche Festivaltitel der vergangenen Jahre wenigstens auf DVD zugänglich zu machen.
Ohne eine kontinuierliche Förderung durch Netzwerke, Initiativen und Institutionen, die sich für den Kinder- und Jugendfilm stark machen, müssten Festival-Vermittlungsimpulse ins Leere laufen. Neben Kinderfilmproduktionen, Kinderfernsehredaktionen von ARD, ZDF und KI.KA, bundesweiten und länderbezogenen Filmfördereinrichtungen sowie engagierten Kinderfilmverleihern sind hier der Förderverein deutscher Kinderfilm, das Kinder- und Jugendfilmzentrum in Deutschland (KJF), der Bundesverband Jugend und Film e.V. (BJF) als Dachverband der nichtkommerziellen Filmarbeit und die Fachpublikation Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz (KJK) zu nennen. Zusammen mit Vertretern/innen vorgenannter Einrichtungen arbeitet auch das bundesweite Netzwerk Vision Kino gGmbH in der vom BJF initiierten "Plattform Kinderfilm", mit dem Ziel, anspruchsvollen Kinder- und Jugendfilmen eine bessere Veröffentlichungschance zu bieten.
Für das breite Spektrum an Kinder- und Jugendfilminitiativen jenseits des regulären Kinobetriebs bis hin zu Medienzentren, Jugendkultur- und -bildungseinrichtungen hat namentlich der BJF, zum Teil in Kooperation mit Matthias-Film, in den letzten Jahren immer wieder wichtige internationale Festivaltitel mit entsprechenden Nutzungsrechten auf DVD verfügbar gemacht. Dass ein herausragender deutscher Film wie Bernd Sahlings
Die Blindgänger, der seit der Berlinale 2004 mit einem Dutzend Auszeichnungen bis hin zum Deutschen Filmpreis überschüttet worden ist, bei uns schließlich überhaupt eine Kinoauswertung erfuhr, verdankt sich dem konzertierten Engagement für die Herausbringung des Films auf mehreren Vertriebswegen, unter anderem als entsprechend aufbereitete
DVD educativ mit Zusatzangeboten für die filmpädagogische Arbeit.
Aktuell hat der BJF angekündigt, den im Programm
Generation Kplus der diesjährigen Berlinale erstmals präsentierten deutschen Kinderfilm
Blöde Mütze! von Johannes Schmid nach der Kinoauswertung in seiner neuen DVD-Editionsreihe
Durchblick zu veröffentlichen. Die Jugendbuchautorin Gudrun Pausewang hat diese Reihe auf dem Internationalen Kinderfilmfestival Lucas in Frankfurt am Main 2006 für herausragende Filme empfohlen, die "in unserer am Profit orientierten Spaßgesellschaft kaum noch Chancen haben, in den Kinos oder im Fernsehen gezeigt zu werden". In der Edition erscheinen jetzt bereits erste Filme aus dem Kinderfilmprogramm der Berlinale 2006 wie etwa der belgisch-niederländische Beitrag
Winky will ein Pferd von Mischa Kamp. Auch
Die Farbe der Milch von Torun Lian soll nach der Kinoauswertung als DVD herauskommen.
Völcker, Beate: Kinderfilm. Stoff- und Projektentwicklung, Konstanz 2005
Das Standardwerk gibt Auskunft zu Marktbedingungen, thematischen Aspekten, zu Fragen von Dramaturgie, Gestaltung, pädagogischer Vermittlung und kultureller Praxis des Kinderfilms mit vielen weiterführenden Informationen zum Arbeitsfeld. Die Autorin ist Referentin am Landesinstitut für Schule und Medien Brandenburg, unter anderem auch Mitglied der Auswahlkommission der Generationen-Sektion der Berlinale.