Die letzte Folge der Miniserie
Deutscher heißt "Das alles und noch viel mehr". Wer die 1980er- oder 1990er-Jahre in Deutschland erlebt hat, dem kommen sofort der weitere Text und die Melodie des Hits von Rio Reiser in den Sinn: "Würd' ich machen, wenn ich König von Deutschland wär." Bei der Ausgestaltung des Planspiels wird auf genau solche kollektiven Erfahrungen und das geteilte Wissen in Deutschland lebender Menschen gesetzt. Die Serie zielt mit den Worten von
Drehbuchautor Stefan Rogall "direkt auf die Erfahrungswelt des durchschnittlichen Zuschauers". Die Perspektive liegt dabei auf zwei benachbarten deutschen Familien ohne Migrationshintergrund, die gegensätzlich auf die Regierungsübernahme einer rechtspopulistischen Partei reagieren. Die Familien Schneider und Pielcke bilden den Mittelpunkt eines bürgerlich-kleinbürgerlichen deutschen Mikrokosmos. Im kleinstädtischen
Setting besetzen migrantische Figuren dabei nur Nebenrollen.
Zwar verorten die Nummernschilder den Schauplatz im Bergischen Kreis in Nordrhein-Westfalen. Der Serie geht es aber keineswegs um Lokalkolorit, sie will offensichtlich vielmehr "typisch deutsche" Verhältnisse abbilden. Dafür nutzt sie Stereotypen und Klischees, was die
Inszenierung nicht kaschiert. Stattdessen folgt die Serie einer zweigleisigen Strategie: Das Ensemble soll einen Querschnitt darstellen, der zugleich als Konstruktion offengelegt wird.
Die
Einstiegssequenz steckt den Rahmen der Versuchsanordnung ab, indem sie einerseits die Hauptfiguren vorstellt und andererseits in die Inszenierungsprinzipien der Miniserie einführt. Das erste Bild zeigt die fast baugleichen Einfamilienhäuser der Familien in einer frontalen Aufnahme, die von einer auffälligen Symmetrie bestimmt wird. Zwei kleine Garagen verbinden die Gebäude, dazwischen markiert eine knöchelhohe Mauer den Grenzverlauf der Grundstücke. Die Hausfassaden stechen sofort durch die symbolträchtige
Farbgestaltung heraus, die an die Farben deutscher politischer Parteien anknüpft. Die linksliberal eingestellten Schneiders bewohnen ein rotes Haus mit üppig wuchernden Büschen davor, die Pielckes, bei denen vor allem der Mann rechtskonservativ gesinnt ist, ein blaues Haus mit übersichtlich bepflanztem Vorgarten.
Während die Farbgestaltung und
Bildkomposition die filmische Konstruktion und Modellhaftigkeit der Szenerie offenbaren, knüpft die morgendliche
Spielszene an Alltagserfahrungen an. Auf der
Tonspur suggerieren entferntes Hundebellen und gedämpfte Kinderstimmen ein Gefühl von Alltäglichkeit. Als Eva Schneider bei den Nachbarn klingelt und mit Ulrike Pielcke ein Gespräch über den Wasserdruck beginnt, wechselt die Perspektive von der Frontansicht in nahe Einzeleinstellungen. Die Frauen unterhalten sich in einer
Schuss-Gegenschuss-Montage und stehen also schon vom Bildausschnitt her in Opposition zueinander.
Nach rund eineinhalb Minuten beginnt auf der Tonspur das
Stück "Go to Town" der Rapperin Doja Cat, das ebenfalls als Fiktionsmarker funktioniert, weil sein treibender Rhythmus den Schauplatz konterkariert und so den filmischen Illusionismus aufbricht. Parallel zu den ersten Songzeilen läuft mit dem Lehrling Olaf eine wichtige Nebenfigur in die Szenerie, die sich in den folgenden Episoden als rechtsextremischer Gewalttäter offenbart und die Eskalation im Ort maßgeblich befördert. Olaf steht hier gewissermaßen für das Eindringen rechtsextremer Ideologie in den bürgerlichen Alltag und die sogenannte politische Mitte. Durch den achtlos auf den Bürgersteig geworfenen Zigarettenstummel und seine ruppige Gangart wirkt er unsympathisch. Der Schlusspunkt der Eröffnung akzentuiert noch einmal die Gegensätzlichkeit der Familien: Frank Pielcke und Olaf steigen in den Firmentransporter, Eva radelt ganz umweltbewusst zur Arbeit.
Auf die Titeleinblendung folgt ein Dutzend Ortsansichten, die mit Ausnahme zweier Einstellungen von Straßenfluchten erneut frontal gefilmt und symmetrisch
komponiert sind. Die jeweils rund 3-sekündigen Impressionen stellen einen Bezug zur provinziellen bundesdeutschen Wirklichkeit her und unterstreichen das Ansinnen, das Zielpublikum mit vertrauten Motiven im eigenen Erfahrungsbereich abzuholen. Wir sehen Fassaden kleinstädtischer Wohnhäuser und einer Apotheke, Blumenkörbe und Garagentore, Jägerzäune, akkurat geschnittene Hecken und ebenso ordentlich aufgehängte Wahlplakate. Auf der Tonebene vermeldet dazu ein Nachrichtensprecher die anstehende Bundestagswahl und damit den thematischen Ausgangspunkt der Serie.
Mit ihrem ruhigen Schnittrhythmus, den statischen Bildkompositionen und der Motivwahl inszeniert die
Sequenz augenzwinkernd das Bild einer normierten bürgerlichen Wohlstandsgesellschaft, deren Stabilität nichts erschüttern zu können scheint: ein Trugbild, wie sich zeigen wird. Die hier eingeführten Frontansichten der Häuser und die Straßenimpressionen avancieren in der Serie zu wiederkehrenden leitmotivischen Tableaus, die das Szenario zum einen quasi "vor der eigenen Haustür" verankern. Parallel betont die Inszenierung immer wieder die Künstlichkeit der erzählten Realität – so auch etwa als die Familien zum Abschluss der Pilotfolge in einer
Zeitlupen-Szene im Garten aufeinandertreffen. Auch durch solche Distanzierungsmethoden regt die Serie die Reflexion des Gezeigten an.
Das Prinzip der typisierten Darstellung wiederholt sich auch in der Figurenzeichnung. Viele der vorgetragenen Argumente wirken wie Thesen aus Talkshows oder Artikeln zum Thema Rechtspopulismus, während die national eingestellten Figuren das "Gutmenschengelaber" oder die "sogenannte freie Presse" monieren. Auch das
Kostüm reproduziert gleichermaßen bei den nicht migrantischen wie bei den migrantischen Figuren gängige Stereotype. So treten beispielsweise türkischstämmige Dealer an der Schule in Sportanzügen auf, während in der Anschlussszene Eva und ihr Kollege Burak von tätowierten Nazischlägern in Poloshirts attackiert werden.
Die Charaktere erscheinen zu Beginn wie Mustermenschen, weshalb die Zuschauenden das Szenario rasch erfassen und sich leicht darin orientieren oder sogar wiederfinden können. Letztlich gibt
Deutscher den Spielball nämlich an das Fernsehpublikum weiter: Es geht nicht nur um die Reaktionen der Schneiders und Pielckes auf den rechtspopulistischen Wahlsieg, die Serie wirft auch die Frage auf, wie sich die Zuschauenden selbst zum Geschehen positionieren. Eine rechte Regierung liefert aktuell den Stoff für eine fiktionale Erzählung, könnte aber irgendwann auch politische Realität werden. Und dann?
Autor/in: Christian Horn, freier Filmjournalist in Berlin, 23.04.2020
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