Interview
Das Gefühl der Ohnmacht ...
Ein Gespräch mit Michael Winterbottom
Das Interview führte Margret Köhler.
Interviewpartner: Michael Winterbottom
Würden Sie Welcome to Sarajevo als 'Kriegsfilm' bezeichnen?
Ich zeige keine Schlachten, sondern das Leben in einer Stadt unter Beschuss, wo man den Feind nicht direkt sieht, wo die Menschen bei alltäglichen Verrichtungen wie Wasserholen oder Überqueren der Straße durch Heckenschützen in Todesgefahr geraten. Den Film sehe ich als Hommage an die Bevölkerung dieser Stadt, an ihren Überlebenskampf und Überlebenswillen.
Was interessierte Sie primär an diesem Thema?
Für mich war es spannend, wie hartgesottene Reporter, die das Kriegselend weltweit kennen, auf diese Stadt im Ausnahmezustand reagieren, wie sie plötzlich aus der neutralen Position des Beobachters ausbrechen und persönlich Stellung beziehen, sich einmischen. Aber die Journalisten dienen nur als Fokus, um das Kriegsdrama erzählen zu können. Ich habe versucht, verschiedene Ereignisse aufzugreifen und miteinander zu verknüpfen.
Haben Sie Michael Nicholson persönlich kennen gelernt, den Autor des Romans "Natasha's Story", auf dem ihr Film beruht?
Im Winter 1996 habe ich ihn einmal getroffen. Was wirklich dort passiert ist, übertrifft unsere Vorstellungen.
Wie würden Sie Ihren Helden, einen englischen Kriegsreporter, beschreiben?
Er ist von Berufs wegen zuerst distanzierter Beobachter und versucht, diesen Wahnsinnskrieg auf dem Balkan fernsehgerecht aufzuarbeiten, erledigt seinen Job. Je mehr er mit dem Leid der Zivilbevölkerung konfrontiert wird, umso mehr engagiert er sich. Was den Ausschlag zu seinem Handeln gab, ein Kind nach England in Sicherheit zu bringen, weiß er vielleicht selbst nicht so genau. Das war vielleicht eine rein gefühlsmäßige Entscheidung.
Verlief die Durchführung des Projektes ohne Komplikationen?
Im Vorfeld herrschte Chaos. Drehbuchautor Cottrell Boyce konnte nicht vor Ort recherchieren, weil Sarajevo von der Außenwelt abgeschnitten war und unter Granatenbeschuss lag. Wir haben mit Journalisten und Flüchtlingen gesprochen, unzählige Dokumentaraufnahmen gesichtet. Nach dem Dayton-Abkommen entspannte sich die Situation. Im Januar 1996 fuhren wir erstmals in die Stadt. Die Bilder der Zerstörung werde ich nie vergessen.
Und wie liefen die Dreharbeiten?
Nach der Genehmigung durch die Behörden gab es keine Probleme, aber das ganze Unternehmen entpuppte sich als Mischung aus logistischem Albtraum und Himmelfahrtskommando. Es fehlte eine funktionierende Infrastruktur. Planungen mussten wir permanent über den Haufen werfen, die Zeit saß uns im Nacken, weil die Aufräumarbeiten begannen und unsere authentischen 'Kulissen' sukzessive vor dem Verschwinden standen. Dazu kam die ständige Angst, von versteckten Landminen in die Luft gejagt zu werden.
Was war das für ein Gefühl, innerhalb der Trümmerlandschaft noch einmal grausame Szenen nachzustellen?
Meine anfänglichen Bedenken wurden schnell zerstreut. Ein Kameramann hat sogar Terror-Szenen nachgedreht, die er schon 'live' während des Krieges aufgenommen hat. Die Bevölkerung unterstützte uns, für sie war der Film eine neue Möglichkeit, ihre furchtbaren Erfahrungen einem Publikum nahezubringen, sie fühlten sich ernstgenommen. Denn die vielen TV-Dokumentationen während des Konflikts rüttelten die Zuschauer am Ende nicht mehr auf, sondern stumpften ab. Mein Film soll Emotionen wecken. Wenn ich einen Anstoß zum Nachdenken geben kann, habe ich schon viel erreicht.
Die Verknüpfung von bekanntem TV-Dokumentarmaterial mit fiktiven Bildern irritiert.
Die Auswahl der TV-Nachrichtensendungen und Dokumentationen, an die sich Zuschauer erinnern können, war bewusst. Denn Nachrichten und Informationen verlieren beim Zappen vor dem Fernseher an Relevanz. Erst im Kontext des Films brennen sie sich ins Gedächtnis ein, entwickelt sich das Grauen des Krieges auf einer anderen Ebene – nicht zuletzt durch den persönlichen Zugang zu den Filmfiguren.
Haben die Dreharbeiten Sie verändert?
Das Gefühl der Ohnmacht hat sich verstärkt. Der Krieg fand in Europa, vor unserer Haustür statt, aber nicht nur die Politiker, wir alle schlossen die Augen vor den Tatsachen, wiesen jegliche Verantwortung ab. Ein Armutszeugnis!
Autor/in: Margret Köhler, 12.12.2006