Sizilien 1953. Auf staubiger Landstraße nähert sich ein klappriger Fiat-Laster dem Marktplatz einer kleinen Stadt. Über Megafon erfahren die Bewohner, dass Dr. Joe Morelli im Auftrag einer Casting-Firma nach neuen Gesichtern und kommenden Filmstars Ausschau hält. Für den Preis von 1.500 Lire (damals noch viel Geld) wird er Probeaufnahmen machen, die später die maßgeblichen Filmleute zu sehen bekommen. Der Platz um das kärglich ausgestattete Zelt des Dr. Morelli füllt sich schnell. Mit seinem enthusiastischen Ausruf "Welch ein Gesicht!" zieht er bald alle in den Bann und vor die Kamera: alte Männer und zornige junge Frauen, den Schafhirten und den Bürgermeister, den alternden Dorf-Casanova ebenso wie den Grünschnabel aus dem Mafia-Clan. Einer nach dem anderen trägt unter lautem Gejohle der übrigen Bevölkerung Sätze aus dem Film
Vom Winde verweht vor, jeder so, wie er das Sprechen gelernt hat. Wenn es mit dem Text nicht klappt, ermuntert Morelli sein Gegenüber, wenigstens irgendetwas zu erzählen. Und plötzlich fangen die eher wortkargen Menschen zu reden an: über sich und das, was sie tun, was sie sich erträumen, über Dinge, die sie ängstigen, die sie bedrücken und die sie sonst noch keinem anderen anvertraut haben. Das wird Dr. Morelli schnell zu viel, und er erklärt die Probeaufnahmen für beendet, um den nächsten hereinzubitten. Sein sibyllinischer Satz: "Wenn hinter diesem Gesicht ein Talent steckt, das schwöre ich Ihnen, dann wird kein Gott ihn davon abhalten, ein Filmstar zu werden!", wird sie noch lange bewegen. Aber das wird auch die einzige Wirkung sein, die Dr. Morelli verursacht, denn der Mann, der die Sterne macht, ist ein Betrüger und in seiner Filmkamera befindet sich nur immer dasselbe wertlose Filmmaterial.
Giuseppe Tornatore hat nach seinem Oscar-prämierten
Cinema paradiso wieder einen Film gedreht, der seine großen Themen 'Sizilien' und 'Das Kino' zusammenbringt. Beide Filme handeln retrospektiv vom Italien der 50er Jahre, beide thematisieren den Untergang des Kinos in seiner sozialen und vor allem kommunikativen Bedeutung zu Gunsten des passiv konsumierten Fernsehens. Nicht immer gelingt es Tornatore, seinen Traum vom Kino, wie es einmal war oder noch immer sein müsste, widerspruchsfrei zu erzählen. Da weckt allein die Kamera bei den verschlossenen Menschen offensichtlich das Gefühl, dass sie es wert sind, gehört zu werden. Entgegen ihrer alltäglichen Erfahrung, allein durch die Konfrontation mit der laufenden Kamera, entsteht der Eindruck, etwas Besonderes zu sein. Ihre Äußerungen sind jetzt von großer Leidenschaftlichkeit, Schönheit und Poesie. Da spiegelt sich Tornatores Traum von den Möglichkeiten des großen Films, und seine Bilder erinnern dabei sehr an Italiens glanzvolle Zeiten des Neorealismus. Doch die Realität vermittelt das genaue Gegenteil. Das Kino interessiert sich schon lange nicht mehr für die Wahrheit der kleinen Leute. Es ist das Fernsehen, das heute süchtig an den Lippen der Zeitgenossen hängt und deren sprachliche Ausscheidungen über den Äther schickt. Vermutlich kennt Tornatore diese, von Leuten wie Berlusconi mitgeschaffene Realität besser als jeder andere. In einem Interview sagte er, Sizilien erleide eine ewige Frustration, "weil sich nie jemand findet, der in aller Tiefe über das Land so erzählt, wie es sich es wünschte." Sein Film wäre dann einerseits der Bericht über dieses Misslingen (Dr. Morellis leere Kamera; die wunderbaren Aufnahmen der Gesichter und ihrer Geschichten existieren nicht bzw. nur noch in seinem Kopf) und gleichzeitig die Behebung des Missstandes mit diesem Film über den nichtgedrehten Film. Ob sich darin allerdings die Sizilianer "in aller Tiefe" wiedererkennen und verstanden fühlen, sei dahingestellt.
In der zweiten Hälfte versackt der Film in einer konventionell erzählten Liebesgeschichte vom Taugenichts und der Unschuld vom Lande, wie sie Federico Fellini mit
La Strada schon besser gelungen ist. Nicht allein, dass Dr. Morelli mit seinen eigenen Waffen geschlagen und das Opfer der Inszenierung eines betrügerischen Pärchens wird. Nicht allein, dass der lange Arm eines toten Mafioso ihn zu fassen kriegt – es ist die Liebe, die Seinen oberflächlichen Charakter durcheinanderwirbelt, es ist wieder einmal das stereotype und heute nur noch ärgerliche 'Damenopfer', das den Mann auf eine höhere Bewusstseinsebene hievt. Ob dieses Opfer nun in einem Sarg oder in einer Irrenanstalt wie im vorliegenden Fall niedergelegt wird, ist dabei ziemlich unerheblich.
Autor/in: Claudia Brenneisen, 01.06.1996