"Es ist unnatürlich, in ein Plastikding zu reden, noch dazu zu Leuten, die man nicht sieht", sagt Elling. Stimmt das etwa nicht? Die Verbindung, die wir am Telefon zu fremden Menschen aufnehmen, beruht darauf, dass wir das Staunen über unsere Stimmen ausblenden, die körperlos durch die Welt spuken. Ist der vierzigjährige Elling, Held eines mittlerweile vierteiligen norwegischen Romanwerkes, das der norwegische Regisseur Petter Naess mit kongenialer Schelmenhaftigkeit verfilmt hat, also ein Philosoph?
Das Zuhause als Fluchtburg
Alles Unheil der Welt beginnt bekanntermaßen damit, dass wir nicht zuhause bleiben. Sollte das die Erkenntnis sein, die Elling dazu anhält, sich nach dem Tod seiner Mutter im Schrank zu verstecken? Möglich wäre es. Elling ist ein Muttersöhnchen, aber dumm ist der Allround-Phobiker nicht. Bis zu seinem 38. Lebensjahr hat Elling den Sessel nicht verlassen, von dem aus er seiner Mutter beim Putzen und Kochen zuschauen konnte, während er einen Blick ins "Arbeiderbladet" warf oder fernsah. "Wenn jemand an der Tür klingelte", heißt es in Ingvar Ambjörnsens zweitem Elling-Roman "Ententanz" über die Lückenlosigkeit einer zum Wahngebilde verdichteten Privatsphäre, "machten wir nicht auf, denn wir wussten, das waren die Zeugen Jehovas oder die Mormonen". So muss der norwegische Sozialstaat zu Beginn von Petter Naess' Film
Elling die Tür zu Mutterns Schrank schon mit Polizeigewalt aufreißen, um in Ellings Kopf die Pforten der Wahrnehmung zu öffnen.
Rückkehr "ins Leben"
Nach zwei Jahren, die der Sonderling mit dem Sauberkeitstick an der Seite seines ebenso wasch- wie denkfaulen Zimmergenossen Kjell Bjarne in einer psychiatrischen Einrichtung verbringt, ist es dann soweit: Der schmächtige Kontrollfreak Elling und das hemmungslos gefräßige Riesenbaby Kjell Bjarne werden ins wirkliche Leben entlassen. In der Wohnung, die ihnen in Oslo gestellt wird, schieben sie ihre Betten zusammen. Freiräume sind gefährlich, Telefonieren und Einkaufen ebenfalls. Frank, der zuständige Sozialarbeiter, sieht das anders. Könnte er hören, was wir hören, müssten die beiden Weltentwöhnten, die eine auf sehr unterschiedlichen Frauenbildern beruhende Unerfahrenheit in sexuellen Dingen eint, vielleicht gar in die Psychiatrie zurückkehren.
Die Realität als Stolperstein
"Zwei Feinde, Schwindel und Unruhe", murmelt es in Ellings Kopf, wenn die Welt, wie er sie bedenkt, wieder mal als Tummelplatz übergriffiger Blicke, Begierden und Bakterien erscheint. Steif wie ein Brett geht er zum ersten Mal aus dem Haus und sackt an der nächsten Kreuzung zusammen: Eine zartere Seele als Per Christian Ellefsen in der Rolle des Titelhelden ist noch nie über die Realität gestolpert. Selbst wenn Ellefsen dem Gedränge auf den Straßen nur zusieht, scheint sein ganzer Körper 'Huch' zu sagen. Aber wozu hat man einen Freund? Als der hünenhafte Kjell Bjarne herausfindet, dass Rausgehen auch Essengehen heißen kann, gibt es kein Halten mehr. Gemeinsam erobern sich die beiden liebenswerten Käuze, die – prozentual auf die Einwohnerzahl betrachtet – in Norwegen mehr Zuschauer gefunden haben als
Amélie in Frankreich, ein Leben, dessen Nöte nur um Haaresbreite von den Versagensängsten und Leistungszwängen erfolgreicherer Großstadtneurotiker abweichen.
Die Symbiose von Wahn und Wirklichkeit
Filme über Geisteskrankheiten sind Filme, die sich notgedrungen mit den Visionen des Kinos und der Fata-Morgana der Projektion auseinander setzen müssen. Die Helden des unprätentiösen Films, der dem Elling in jedem von uns nachspürt, sind nicht verrückt genug, um das Koordinatensystem einer chronologischen Erzählung zu erschüttern, wohl aber so erfrischend anders, dass ihr Blick alle einschläfernde Selbstverständlichkeit vertreibt. Schließlich ist es wirklich schwierig, die Frau fürs Leben kennen zu lernen. Wie erst, wenn sie die Nachbarin ist und am Heiligabend schwanger und betrunken vor der Tür liegt? Soll man solchen Leuten die Hand reichen? Der sexbesessene Kjell Bjarne wird lernen, Verantwortung zu tragen, wenn er die zukünftige ledige Mutter unbeschadet in ihr Bett bringt. Elling wird seine rigiden Vorstellungen von der Normalität korrigieren und sich von Kjell Bjarnes unorthodoxer Liebesgeschichte zu einem Gedicht inspirieren lassen. Vielfach kopiert und versteckt in Sauerkrautpackungen zieht das Gedicht in die Lokalnachrichten ein. Ein Jemand sein zu können, das beglückt Naess' sympathischen Querulanten. Wird der "anonyme Sauerkrautpoet" sich outen und berühmt werden? "Ich will bleiben, was ich bin – ein Muttersöhnchen", beantwortet Elling die Frage nach dem Wunschdenken der Leistungsgesellschaft, die jede Verrücktheit als Kunst vermarktet. Heilsam ist das Gleichgewicht, das dieser beglückend sperrige Film zwischen Drama und Komödie findet.
Autor/in: Heike Kühn, 01.05.2002