Im Jahr 1806 malte der romantische Künstler Franz Ludwig Catel ein Bild, das bald darauf als Kupferstich in vielen deutschen Bürgerstuben hing. Es zeigt Martin Luther zu Wittenberg im Dezember 1520, als er kanonische Schriften und die päpstliche Bannbulle verbrannte. Dieses Bildmotiv stilisierte den Reformator zur einer Art Nationalheiligen. Es wurde 1998 anlässlich der Ausstellung "Mythen der Nationen" im Deutschen Historischen Museum diskutiert und es fehlt selbstverständlich nicht in Eric Tills Film
Luther.
Zutaten zum Luther-Mythos
In diesem Film fehlt kaum eine Szene aus dem Luther-Mythos. Die Geschichte setzt mitten in dem Gewitter ein, in dem Luther gelobte, ins Kloster zu gehen. Der Film zeigt, wie Luther einen Zettel mit Thesen an die Wittenberger Kirchentür schlägt. Das ist als historisches Geschehen ebenso wenig gesichert wie die Wormser Formel "Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir!". Luther-Darsteller Joseph Fiennes spricht sie mit Nachdruck und Glutaugen. Nur nach dem Teufel darf er auf der Wartburg kein Tintenfass werfen. Dafür ringt er manchmal mit ihm, wälzt sich sogar auf dem Boden wie bei einem Anfall. Der Luther von Till und Fiennes ist ein begeisterter Luther, den ein genialischer Geist so heftig vorwärts treibt, dass der Zuschauer richtig aufatmen darf, wenn mit Luthers Mentor Johann von Staupitz in der kühlen, nachdenklichen Interpretation durch Bruno Ganz ein Gesicht der Vernunft auf der Leinwand erscheint.
Die Epoche als Kulisse
Weiß der Zuschauer jedoch wenig von der Reformation, von ihren Daten und Protagonisten, dann wird er mit der Figur des Johann von Staupitz kaum etwas anfangen können. Das Panorama der Geschichte wird von der Dramaturgie des Films nicht durchsichtig gemacht. Das Personal ist hingetupft und nicht entwickelt. Die Epoche erscheint als theatralische, in üppigen Bildern aufgebaute Kulisse von wimmelnden Fachwerk-Marktplätzen, kargen Klosterzellen und den prachtvollen Sälen und Treppen des übermütigen Katholizismus. Besonders eindrucksvoll inszeniert sind die Stufen zur Lateran-Basilika in Rom mit ihrer grotesken Ansammlung von Gläubigen in Ablass-Ritualen. Vor diesen Kulissen kann sich nichts entfalten als allein das genialische Individuum Martin Luther. Die Confessio Augustana von 1530, mit der
Luther historisch endet, bleibt in ihren Zusammenhängen rätselhaft – genauso wie der Bauernkrieg.
Der unübersichtliche Bauernkrieg
Irgendwie kippt während Luthers Exil auf der Wartburg draußen die Stimmung. Gründe erfährt man nicht. Ganz vage wird auf soziale Forderungen verwiesen. Es kommt zu einer kurzen, nicht nachvollziehbaren Auseinandersetzung zwischen Luther und seinem Parteigänger Karlstadt. Der Film legt es nicht darauf an, Informationen über Geschichtsverläufe zu geben. Der Film will sein Publikum vielmehr mit mächtigen Bildern pathetisch emotionalisieren. Also wird Luther betroffen zwischen Leichenhaufen gestellt. Die Farben sind düster und grau; Rauch wallt. Und um die Erschütterung auf die Spitze zu treiben, entdeckt der Reformator zwischen den Toten eine Mutter und ihr behindertes Kind. Um beide hatte er sich in früheren Szenen besonders gekümmert.
Die Flammen des Fegefeuers
Der Zuschauer kann mit Luther fühlen, aber er kann nicht begreifen, wie der Kirchenkonflikt mit dem sozialen Konflikt zusammenhängt, welche Rolle Luther dabei spielt, was eigentlich außerhalb der zugespitzten Auseinandersetzung zwischen einer neuen Interpretation der Bibel und deren Ablehnung durch die päpstliche Fraktion geschichtlich noch vorgeht. Der Film interpretiert Luthers Kampf gegen den Ablass-Handel nicht als Auslöser zur Reformation als einer gesellschaftlich notwendigen Erneuerung, sondern zeigt ihn als deren Kern. Entsprechend wuchtig sind die Szenen um den Ablasshändler Tetzel in der dämonisierenden Darstellung durch Alfred Molina angelegt. Zwischen Kamera und Prediger lodern schon die Flammen des Fegefeuers und bedrohen gleichsam auch das Publikum.
Monumentales Spektakel
Vor Tetzels Auftritt zeigt eine Gauklertruppe auf dem Markt ein Höllenspektakel. Hier genau liegt der Ursprung dieses Luther-Films. Er ist ein Spektakel aus dem Jahrmarkts-Geist der klassischen Monumentalfilme Hollywoods wie
Inferno und Ekstase (Carol Reed, 1965) oder
El Cid (Anthony Mann, 1961). Eine eindrucksvolle, spannende, gefühlsstarke Geschichte, aber kein modernes Kino. Modern höchstens in der Rasanz der Kamera und im Tempo der Montage. Dieses Tempo hat jedoch wieder historische Unübersichtlichkeit zur Folge.
Luther scheint keine Zeitdimension zu besitzen. Vom Gelöbnisgewitter zur plötzlichen, für den Publikumsgeschmack offensichtlich unerlässlichen Hochzeit mit Katharina von Bora stürzen die Jahre in einen Strudel. Ursachen und Folgen verlieren einander aus den Augen.
Eine Art Heiligenlegende
So ist Eric Tills
Luther ein sehr katholischer Film über den Begründer des Protestantismus geworden. Die Bebilderung der Geschichte hat Vorrang vor ihrer rationalen Lektüre. Entstanden ist eine Art Heiligenlegende über einen neuen St. Martin, den glühenden Eiferer in exotischer Zeit. Vielleicht ist das ja ein gutes Zeichen der Ökumene. Denn der Vatikan dürfte mit dem Film ebenso gut leben können wie die Evangelische Kirche Deutschland (EKD), die seine Dreharbeiten unterstützte.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 01.11.2003