Filmfest München 2005
La petite Chartreuse
Im 23. Jahr seines Bestehens solle Festivalleiter Andreas Ströhl zufolge das Filmfest München "nicht in erster Linie mit guten Filmen aufwarten", aber auch keine "schlechten" zeigen. Was hier schon zwischen den Zeilen des Vorworts zum Katalog anklingt, bestätigte sich bei den traditionellen Programmschwerpunkten: Es gab nur wenige echte Highlights auf und vor der Leinwand, dafür aber viel filmisches Mittelmaß. Ströhl zufolge solle das Festival aber auch Gelegenheiten für Entdeckungen bieten – keine Frage, sie ließen sich machen.
Der Vater meiner Schwester
Das französische Kino
In punkto anspruchsvolle, berührende und gut gespielte Unterhaltung mit aus dem wirklichen Leben gegriffenen Themen lagen diesmal die französischen Filme eindeutig vorne. Neben
Zwei ungleiche Schwestern von Alexandra Leclere, der wenige Wochen nach dem Filmfest bereits einen deutschen Kinostart hat, beeindruckten zwei Filme, in denen zufällig jeweils ein kleines Mädchen und ein älterer, vom Leben gezeichneter Buchhändler die jeweiligen Protagonisten/innen sind:
La petite Chartreuse (
Die kleine Kartäuserin) von Jean-Pierre Denis ist eine frei bearbeitete Verfilmung des gleichnamigen Romans von Pierre Péju. Ein ehemaliger Alkoholiker, dessen Ehe daran zerbrochen ist, überfährt schuldlos ein etwa achtjähriges Mädchen, das vor sein Auto gelaufen ist. Die kleine Eva überlebt schwerverletzt, liegt aber wochenlang im Koma. Während die allein erziehende Mutter des Kindes genug mit ihren eigenen Problemen zu tun hat, liest der bestürzte Buchhändler ihr im Krankenhaus unermüdlich Geschichten vor und kümmert sich in einer Mischung aus Schuldgefühl, Verantwortungsbewusstsein und innerer Berufung um die Kranke, was beider Leben dramatisch verändern wird. - In
Le cou de la Girafe (
Der Hals der Giraffe) von Safy Nebou ist das Mädchen Mathilde neun Jahre alt, lebt ebenfalls allein mit ihrer Mutter und etwas isoliert in ihrer eigenen kleinen Welt. Sie hängt sehr an ihrem Großvater, einem ehemaligen Buchhändler, der nach einer Herzoperation in einem Pariser Pflegeheim wohnt. Als Mathilde durch einen versteckten Brief herausfindet, dass ihre angeblich vor vielen Jahren verstorbene Großmutter noch lebt und Mathilde von den Erwachsenen belogen wurde, überredet sie ihren Großvater, gemeinsam seine geschiedene Frau im Süden Frankreichs zu suchen. In atmosphärisch dichten Bildern zeigen diese Filme, wie das Lesen zum Ausgangspunkt einer Reise in unbekanntes Terrain und zur Auseinandersetzung mit der familiären Vergangenheit wird.
Mouth to Mouth
Neue deutsche Filme
Im Vergleich zu den französischen Produktionen wirkt Dagmar Knöpfels neues Werk
Durch diese Nacht sehe ich keinen einzigen Stern dem Titel adäquat wolkenverhangen, bemüht und abgedroschen. Die Beschäftigung mit Literatur gibt zwar auch hier den Hintergrund für eine persönliche Passion, die der berühmten tschechischen Schriftstellerin Bozena Nemcová. Corinna Harfouch in der Hauptrolle müht sich auch redlich ab, doch durch die verschachtelte Dramaturgie und das zum bloßen Klischee erstarrte Bild des bösen Ehemanns, der seine Frau immer wieder schlägt und ihr alles verdiente Geld abnimmt, verliert man bald das Interesse an der Figur. Hinzu kommt, dass der Film die letzten Tage der Schriftstellerin langatmig in unterschiedlichen Versionen rekonstruiert und zwar herausarbeiten kann, dass der Mann die schriftstellerischen Bemühungen seiner Frau missbilligt, aber niemals erklärt, warum immer genügend Tinte und Schreibmaterial vorhanden ist, während die Frau Hunger leidet und der Mann ihr auch noch alle Ersparnisse abgenommen hat. – Weitaus stimmiger, fesselnder und alltagsrelevanter als die Mehrzahl der deutschen Kinofilme waren die auf dem Festival wieder in einer eigenen Reihe präsentierten Fernsehfilme, beispielsweise
Der Vater meiner Schwester von Christoph Stark. Kurz vor seiner Gesellenprüfung als Koch erfährt der 19-jährige Paul, dass er das Resultat eines Seitensprungs war, sein von der Mutter längst totgesagter Vater noch lebt und sogar in derselben Stadt als Arzt tätig ist. Dieser bewohnt mit seiner Frau eine schmucke Villa und die beiden haben eine gemeinsame Tochter etwa in Pauls Alter. Paul sucht nach einer Antwort darauf, warum der Vater ihn nicht akzeptiert und die ganzen Jahre verleugnet hat. Als der Arzt daraufhin lediglich um sein Eheleben besorgt ist, macht sich Paul an dessen Tochter heran, die nicht ahnt, in wen sie sich gerade verliebt hat.
Shake Hands with the Devil
Jugendliche Überlebensstrategien
Und noch einmal eine allein erziehende Mutter, diesmal wieder mit einer Tochter: In
Mouth to Mouth von Alison Murray reißt die 16-jährige Londonerin Sherry von zu Hause aus und schließt sich in Berlin einer Gruppe Punks, Freaks und Junkies an, die sich um einen charismatischen Anführer scharren. In Spanien will man den Traum von Freiheit und alternativer Gemeinschaft verwirklichen, selbst Sherrys Mutter, die ihrer Tochter nachreist, ist bald von den Lebensvorstellungen der Gruppe und der Ausstrahlung des Gurus eingenommen, was sie umso blinder für die Bedürfnisse ihrer Tochter macht. Als sich herausstellt, dass der Guru für seine Ziele rücksichtslos über Leichen geht, muss sich Sherry entscheiden, wie sie ihr junges Leben weiter gestalten will. Der vor allem durch ihre Musikvideos bekannt gewordenen Regisseurin gelingt es in ihrem formal bestechenden, thematisch hoch brisanten Film, das in lauter Extreme eingebundene Lebensgefühl ihrer Protagonisten/innen mit entfesselter Handkamera, schnellen Schnitten, rasanten Kamerafahrten, lebensechten Dialogen und dramatischen Szenen authentisch einzufangen. – Der Dokumentarfilm
Rize von David La Chapelle nimmt ein kulturelles Tanz-Phänomen unter die Lupe, dass sich unter den Jugendlichen in den Schwarzen-Ghettos von Los Angeles entwickelte. Noch vor wenigen Jahren kam es zu oft tödlich endenden Bandenkriegen. Auch wenn diese Gefahr nicht gebannt ist, wie der Film ebenfalls zeigt, haben die Jugendlichen ihre aus Elend und Chancenlosigkeit entstandenen Aggressionen in einer künstlerischen Ausdrucksform sublimiert, die Elemente der afrikanischen Stammestänze mit irrwitzig schnell ausgeführten akrobatischen Einlagen verbindet. Aus der 1992 entstandenen Form des "Clowning" entstand das "Krumping" der heutigen Kids. Ein wichtiges Zeitdokument, das auch deshalb so fasziniert, weil die Spirale der Gewalt doch nicht so unausweichlich scheint, wie sie meistens dargestellt wird.
The Death of Mr. Lazarescu
Kriegs-Nachwirkungen
Mehrere Spiel- und Dokumentarfilme gehen den Spuren nach, die einige Kriege des vergangenen Jahrzehnts in der äußeren Realität wie in den Köpfen der Menschen hinterlassen haben. Aus medienkritischer Sicht greift Stephen Marshall in seinem US-Spielfilm This Revolution das veränderte politische Klima in seinem Land nach dem Krieg der USA im Irak auf. Jake, ein Fernsehberichterstatter, der gerade aus dem Irak zurückgekommen ist, soll im Vorfeld der republikanischen Nationalversammlung über junge Revoluzzer berichten, die gegen diesen Krieg protestiert haben. Dabei lernt er eine junge Frau kennen und lieben, deren Mann als Soldat im Irak getötet wurde. Als die Fernsehstation gegen seinen Willen Videoaufnahmen der Anarchisten/innen, darunter auch seiner heimlich gefilmten Geliebten, zur Terrorfahndung an das Ministerium für Innere Sicherheit weitergibt, besinnt sich Jake auf die eigentlichen Aufgaben des investigativen Journalismus. Dramaturgisch etwas einfach gestrickt, ist der Film doch ein bemerkenswertes Zeichen dafür, dass die amerikanischen Medien ihrer neu zugedachten Rolle als reine Fahndungsgehilfen der Polizei nicht kritiklos zustimmen. – Die pakistanische Filmemacherin Sharmeen Obaid zeigt in ihrer Dokumentation Re-Inventing the Taliban aus ihrer persönlichen Sicht das großflächig um sich greifende Erstarken des radikal-islamischen Fundamentalismus in ihrem Land nach dem Vorbild der Taliban. In Pakistan wird die Kluft zwischen westlicher und islamistischer Orientierung immer größer, Waffen werden in allen Variationen frei zum Verkauf angeboten und die politische Rechte rechtfertigt ihre brutalen Übergriffe auf politisch Andersdenkende damit, dass man sie vorher gewarnt hätte, ihr Verhalten zu ändern. – Der in deutsch-irakischer Koproduktion entstandene Film Underexposure von Oday Rasheed versucht in einer nicht so recht überzeugenden Mischung aus Impressionen, inszenierten Szenen und Interviews, das Leben einiger Freunde des Regisseurs nach dem amerikanischen Angriff auf Bagdad zu dokumentieren. Das Filmmaterial stammt aus alten Beständen des irakischen Kulturministeriums, bei denen unklar war, ob es noch belichtungsfähig sein würde. Die erschwerten Produktionsbedingungen bilden den roten Faden des Films, der zwar einige starke Szenen aufweist, die das Leid der Bevölkerung dokumentieren, insgesamt aber eher beliebig und unausgegoren wirkt. – Shake Hands with the Devil von Peter Raymont schließlich ist eine Hommage an General Roméo Dallaire, der 1994 zur Zeit des Völkermords in Ruanda das Kommando über die UN-Schutztruppen hatte und mit großem persönlichen Engagement auch da Menschenleben zu retten versuchte, wo ihm durch das Mandat der Völkergemeinschaft eigentlich die Hände gebunden waren (siehe hierzu auch Kinofenster 5-05). Der Film begleitet Dallaire, der seine Erfahrungen in dem gleichnamigen Buch niederschrieb, zehn Jahre später auf eine Reise zurück an die Originalschauplätze in Ruanda, wo es auch zu einer Begegnung mit dem damaligen Revolutionsführer und heutigen Staatspräsidenten des Landes Paul Kagame kommt. Schade nur, dass der Film sich ausschließlich auf die Perspektive des Generals konzentriert und nicht auch andere UN-Soldaten/innen zu Wort kommen lässt.
Menschlicher Störfaktor
Von dem jungen rumänischen Regisseur Cristi Puiu stammt der vielleicht beeindruckendste Film des Festivals: The Death of Mr. Lazarescu ist trotz seiner 153 Minuten spannend wie ein Thriller, existenzialistisch wie ein absurdes Theaterstück, mit bittersüßem schwarzem Humor wie eine britische Arbeiterkomödie und so dokumentarisch-realistisch und authentisch, dass man darüber die Inszenierung und die Fiktionalität der Geschichte vergisst. Quälende Kopfschmerzen veranlassen einen allein lebenden Rentner an einem Wochenende, den Notfalldienst anzurufen. Eine Krankenschwester möchte kein Risiko eingehen und weist den Alten in ein Krankenhaus ein. Doch der Mann hat ausgesprochenes Pech und vor allem keine unmittelbaren Angehörigen, die ihm beistehen könnten. Weil er zuvor Alkohol getrunken hat und auch danach riecht, halten ihn die Ärzte/innen bloß für einen Säufer, einige verweigern jede weitere Untersuchung. Ein Verkehrsunfall in der Stadt sorgt zusätzlich für die Überlastung der Notaufnahmen mit Schwerverletzten, hinzu kommt die Borniertheit der einen und die Arbeitsüberlastung der anderen Fachkräfte, vor allem eine aus den Fugen geratene medizinisch-technische Maschinerie, die den Menschen zum reinen Störfaktor degradiert. Nach einer Odyssee durch vier Krankenhäuser wird der Mann am Ende sterben; ihm hätte eigentlich geholfen werden können. Fotos: Filmfest München
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006