Zwei Freunde in Kabul
Kabul, in den 1970er-Jahren. Der 12-jährige Amir lebt mit seinem Vater Baba, einem weltoffenen und kriti-
schen Intellektuellen aus der paschtunischen Ober-
schicht, in einem großen Haus in Afghanistans Haupt-
stadt. Inmitten der geschäftigen Basare und dem bunten Völkergemisch aus Paschtunen, Hazara, Tadschiken und Indern herrscht eine lebensfrohe, friedliche Atmosphäre. Hier verlebt Amir mit seinem besten Freund Hassan ausgelassene Kindheitstage. Hassan ist der gleichaltrige Sohn eines der Hazara-Minderheit angehörenden Hausangestellten. Im Gegensatz zum ängstlichen Amir tritt er offenherzig und mutig auf – zur Bewunderung von Baba, der das zurückhaltende Wesen seines Sohnes nur schwer akzeptieren kann.
Verrat und Scham
An einem sonnigen Nachmittag nehmen die Freunde am traditionellen Drachenwettbewerb teil und gewinnen nach spannungsreichem Spiel. Doch die Freude über den Sieg währt kurz. In einer engen Gasse wird Hassan von einer Gruppe junger Paschtunen bedrängt. Der Anführer Assef versucht, von ihm die Siegestrophäe, einen Drachen, zu erpressen. Als Hassan sich standhaft weigert, diesen auszuhändigen – für ihn ist er ein Sym-
bol seiner Freundschaft mit Amir – wird er von der Bande vergewaltigt. Unbemerkt beobachtet Amir diese Szene, greift jedoch nicht ein. Anschließend kann er Hassans Anblick nicht mehr ertragen: Er verachtet den Freund für das, was ihm angetan wurde und wird durch ihn zugleich an sein eigenes beschämendes Verhalten erinnert. Wenige Zeit danach – es droht der Einmarsch der Sowjet-Truppen in Kabul – flieht Amir mit seinem Vater Baba außer Landes.
Eine Chance zur Wiedergutmachung
20 Jahre später lebt Amir als debütierender Schriftsteller in San Francisco. Das Leben im Exil stellt die Rahmenhandlung des zu großen Teilen als Rückblende erzählten Films dar, die durch einen Anruf aus Peschawar in Pakistan ausgelöst wird. Ein alter Freund seines mittlerweile verstorbenen Vaters bittet Amir, in das kriegszerrüttete Afghanistan zu reisen, wo die Taliban mit eiserner Faust regieren. Er soll Sohrab, den verschollenen Sohn seines Kindheitsfreundes Hassan finden. Hassan selbst und seine Frau wurden von den religiösen Eiferern ermordet. Für Amir bietet sich endlich eine Chance, seinen schweren Fehler aus der Vergangenheit wieder gut zu machen. Erneut begegnet er Assef, diesmal in Gestalt eines Taliban-Kämpfers, der Sohrab in einem abgelegenen Haus gefangen hält und missbraucht. Alle Angst überwindend setzt er nun sein Leben aufs Spiel, um den Jungen zu befreien.
Kabul unter den Taliban
Die Drachen, Symbole kindlicher Freude und Freiheit, sind im Jahr 2000, als Amir in seine Heimat zurückkehrt, verschwunden. Beklemmende Bilder der Zerstörung und der Leere bestimmen nun die Atmosphäre in Kabul, einer Stadt, aus der alle Lebensfreude gewichen ist, und Musik, Kino und Drachensteigen verboten sind. Dramaturgisch verdichtet sich die Bigotterie und Menschenverachtung der Taliban in der Figur des Assef, der eine Ehebrecherin im Stadion von Kabul öffentlich steinigt, um gleich darauf als Peiniger Sohrabs in Erscheinung zu treten. Mit kultureller Sensibilität und subtilen Bildern hat der deutschstämmige Regisseur Marc Forster (
Schräger als Fiktion, USA 2006;
Monster’s Ball, USA 2001) das Tabuthema "Missbrauch junger Männer" dargestellt. Die sexuelle Gewalt, so Forster in einem
Interview mit kinofenster.de, sei zugleich eine Metapher für die gewaltvolle Unterdrückung und Zerstörung eines Landes und seiner Kultur.
Miteinander in Toleranz
Amir und Hassan verkörpern sowohl Klassenunter-
schiede als auch unterschiedliche Ethnien der af-
ghanischen Gesellschaft: die politisch dominierende Mehrheit der Paschtunen und die häufig diskriminierte Minderheit der Hazara. Die kulturelle und soziale Diffe-
renz wird jedoch durch ihre Freundschaft überwunden. Dieses "Miteinander in Toleranz" gewinnt erneut an Relevanz durch Amirs spätes Bemühen um Wiedergut-
machung und setzt Impulse der Hoffnung in einem Land, das durch Krieg, Hass und Fanatismus verwüstet wird. Zugleich erlangt Amir, der sich in äußerster Bedrohung schließlich doch noch als couragiert erweist, die eigene innere Integrität zurück.
Poetische Erzählung
Die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Khaled Hosseini umfasst zwei Jahrzehnte politischer Umwälzungen, in denen Kabuls Gesicht sich wandelt: von der einst pulsierenden, friedvollen Metropole in den 1970er-Jahre zum Ort, an dem der Terror einer islamistischen Diktatur herrscht. Forster ist es gelungen, die Hauptthemen der literarischen Vorlage – Freundschaft und Verrat, Gewissen und Zivilcourage, Schuld und Sühne – vielschichtig und berührend umzusetzen. Einfühlsam verbindet der Film persönliche Schicksale mit der Landesgeschichte Afghanistans. In epischen Bildern, untermalt von den ruhigen Melodien des afghanischen Musikers Ehsan Aman oder den religiösen Liedern des muslimischen Komponisten Sami Yusuf, spiegelt sich die lyrische Erzählweise des Romans wider. Eine ruhig geführte Kamera gewährt dem Publikum die notwendige Distanz zur Reflexion der dramatischen Geschehnisse und vermeidet jegliches voyeuristisches Zur-Schau-Stellen der Gewalt, die Hassan oder sein Sohn Sohrab erleiden müssen.
Authentizität der Darstellung
Seine Überzeugungskraft verdankt der Film nicht zuletzt den authentisch wirkenden Schauplätzen und hervorragenden Darsteller/innen. Gedreht wurde in San Francisco und der chinesischen Oasen-Stadt Kashgar, in zahlreichen Szenen wurde Dari, eine der Landesspra-
chen Afghanistans, gesprochen. Die meisten Schauspie-
ler/innen stammen aus Kabul, darunter die Kinderdar-
steller, beide Laien, die ihr Spiel mit großer Natürlichkeit meistern. Ahmad Khan Mahmoodzada bringt Hassans Ergebenheit und Mut so überzeugend auf die Leinwand wie Zekiria Ebrahimi die Unsicherheit Amirs und die Scham über den Verrat, die unter seiner Verschlossenheit hindurchschimmern.
Drachenläufer nimmt uns mit in eine fremde Welt, aber wovon der Film erzählt, ist uns in vielem vertraut – Freundschaft, die am Verrat zerbricht, Scham über das eigene Versagen und die Suche nach Vergebung.
Autor/in: Susanne Gupta, 13.12.2007
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