Hintergrund
Jugendliche im deutschen Dokumentarfilm
Von der Pisa-Studie über Tagesschau-Nachrichten und Castingshows bis zum Kinofilm – Coming of Age und Jugend sind zeitlos aktuelle Gegenstände öffentlicher Diskussionen und medialer Inszenierungen. Ein Blick auf die
Dokumentarfilmproduktionen der letzten Jahre in Deutschland zeigt, dass Jugendliche auch hier wiederholt im Mittelpunkt stehen.
Was lebst du?
Auffällig ist in diesen Filmen, ähnlich wie in Reportage- und Nachrichtensendungen im Fernsehen, dass häufig nicht das Jungsein selbst im Vordergrund steht, sondern das Aufwachsen unter bestimmten Bedingungen. Zum einen schließt der Prozess des Erwachsenwerdens Fragen nach
Was lebst du? (Foto: RealFiction Filmverleih)
ethnischer, kultureller und sozialer Zugehörigkeit mit ein, zum anderen spiegelt die Identitätssuche junger Menschen häufig auch das (Fehl-)Verhalten ihrer Umgebung. "Was lebst du?", der Titel von Bettina Brauns Dokumentation (2005) über vier Freunde unterschiedlicher Herkunft in Köln, könnte als zentrales Motto der meisten
Dokumentarfilme über Jugendliche gelten. Zwei Jahre lang hat sie Ali, Kais, Ertan und Alban, alle zwischen 16 und 20 Jahre alt, begleitet und sich immer wieder vor der Kamera mit ihnen unterhalten. Ihnen gemeinsam ist das Bemühen um Selbstbestimmung zwischen Schulabschluss und schwieriger Arbeitssuche, zwischen den traditionellen Vorstellungen ihrer muslimischen Eltern und den eigenen Wünschen. Im Verlauf des Films treten hinter Unsicherheit und Macho-Posen sympathische Persönlichkeiten hervor, die sich vor allem rappend und tanzend selbstbewusst ausdrücken. So zeigt
Was lebst Du? weit mehr als die Hürden im Alltag benachteiligter Jugendlicher: Es geht vor allem um Lebensgefühl und Identität der zweiten Einwanderer-Generation in Deutschland.
Multikulturelle Normalität
Mit dem Selbstverständnis junger Menschen in einer multikulturellen Gesellschaft befassen sich auch
Prinzessinnenbad (Bettina Blümner, 2007) und
Football under cover (Ayat Najafi, David Assmann, 2008). Beide Filme sind im ethnisch und kulturell heterogenen Berlin-Kreuzberg angesiedelt und fokussieren weibliche Identitätsentwürfe. Selbst wenn manche Ansichten nicht ausgereift sind, spielen sowohl für das Freundinnentrio Klara, Tanutscha und Mina in
Prinzessinnenbad als auch für die Fußballspielerinnen in
Football under cover ihre unterschiedlichen Hintergründe keine wesentliche Rolle. Das Zusammenleben im durchmischten Kreuzberg verbindet: die gemeinsame Kindheit, das Ausgehen oder das Fußball spielen. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die Reise der Fußballspielerinnen zur iranischen Frauennationalmannschaft nach Teheran. Hier gestaltet sich das Leben anders, aber die geteilte Liebe zum Fußball ist grenzüberschreitend.
Existenzielle Krisen
Während
Was lebst du? oder
Prinzessinnenbad kaleidoskopartige Momentaufnahmen aus dem Alltag von Jugendlichen entwerfen, thematisieren
Zur falschen Zeit am falschen Ort (Tamara Milosevic, 2005),
Drifter (Sebastian Heidinger, 2007) und
Die dünnen Mädchen (Maria Teresa Camoglio, 2008) drängende gesellschaftliche Themen wie
Die dünnen Mädchen (Foto: EYZ Media)
Jugendgewalt, Drogenabhängigkeit und Magersucht. Tamara Milosevic etwa nimmt die brutale Ermordung eines 17-Jährigen durch drei Jugendliche zum Anlass, den Tatort Potzlow, ein Dorf in Brandenburg, und seine Bewohner/innen in Alltagsbeobachtungen, Interviews und Aufnahmen vom Tatort zu porträtieren. Perspektivlosigkeit, Langeweile und Alkohol belasten das Zusammenleben dort merklich. Der antrieblose Matthias, der beste Freund des Opfers, leidet offenkundig unter dem traumatischen Erlebnis. Doch sein Umfeld hat den Mord längst verdrängt. Geblieben ist eine aggressive und lieblose Atmosphäre, mit der Heranwachsende konfrontiert sind.
Drifter konzentriert sich indessen auf die unkommentierte, nüchterne Beobachtung dreier heroinabhängiger Jugendlicher, die am Berliner Bahnhof Zoo ein dröges Dasein fristen. In
Die dünnen Mädchen besucht Maria Teresa Camoglio eine Klinik für magersüchtige junge Frauen. Hier versteht sich die Filmproduktion selbst als therapeutische Instanz: Im Kontext eines eigens für den Film durchgeführten Flamenco-Workshops reflektieren die Patientinnen ihre Krankheit in Gruppendiskussionen, Einzelgesprächen und mittels eigener selbstironischer Videofilme, allerdings noch ohne nennenswert aus ihrem zwanghaften Verhalten auszubrechen.
Musik und Bewegung als Motoren
Therapie- beziehungsweise Fördermethoden sind auch Gegenstand weiterer Filme: Wie
Tanzträume – Jugendliche tanzen Kontakthof von Pina Bausch (Anne Linsel, 2009) ist
Rhythm is it! (Thomas Grube, Enrique Sánchez Lansch, 2004) die filmische Dokumentation eines Tanzprojektes, allerdings mit eindeutig pädagogischer Absicht.
Rhythm is it! (Foto: Piffl Medien GmbH)
Zur Musik der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Sir Simon Rattle studierten 250 Berliner Schüler/innen von "normalen" und von "Problemschulen" eine Choreographie zu Igor Strawinskys
Le sacre du printemps ein. Über die bloße Chronologie der Proben und Gesprächssequenzen mit den berühmten Projektinitiatoren hinaus werden drei Jugendliche in Interviews näher vorgestellt: Sie wachsen durch das Projekt auch in anderen Lebensbereichen über sich hinaus. Welche Bedeutung Musik und Bewegung als Motoren in der Entwicklung Heranwachsender haben können, zeigen beispielsweise auch
Friedensschlag – Das Jahr der Entscheidung,
Neukölln Unlimited (Agostino Imondi, Dietmar Ratsch, 2010) oder
Dokumentarfilme speziell über jugendkulturelle Phänomene wie
Love, Peace & Beatbox von Volker Meyer-Dabisch aus dem Jahr 2008.
Projektdokumentation versus szenischer Dokumentarfilm
Im Wesentlichen lassen sich im deutschen
Dokumentarfilm über Jugendliche zwei filmische Herangehensweisen beobachten. Einerseits die Dokumentation von Projekten mit begrenzter Dauer, andererseits szenische Beobachtungen des Alltags und von besonderen Ereignissen. Fraglich bleibt dabei immer, wie nah ein Film tatsächlich an der Realität ist, denn Szenenauswahl,
Kameraperspektive oder
Schnitt bieten viele Möglichkeiten, diese abzubilden.
Prinzessinnenbad etwa wirkt durch die auffällige (Selbst-)Inszenierung der Mädchen, teils clipartiger
Montage,
Filmmusik und offensichtlicher Bildbearbeitung fast ebenso narrativ und unterhaltsam wie ein Spielfilm.
Drifter hingegen besticht durch lange, kommentarlose Aufnahmen der meist banalen Verrichtungen von Jugendlichen, die die Kamera vergessen zu haben scheinen. Hier gibt es keine Dramaturgie, keinen Spannungsbogen im konventionellen Sinn. Die Tragweite des Gezeigten müssen sich die Zuschauenden selbst erschließen. Bei
Rhythm is it! halten sich ähnlich wie in TV-Talentshows Beobachtungen der Projektstationen und erläuternde Interviewsequenzen die Waage.
Dokumentarfilme verdichten stets die Realität, aber können dennoch ein authentisches Bild zeichnen – sofern die porträtierten Jugendlichen in den oftmals langen Vorbereitungsphasen genügend Vertrauen zu den Filmemacher/innen fassen, um Gefühle und Gedanken auszudrücken.
Autor/in: Marguerite Seidel, Filmjournalistin, 22.03.2010
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