Das beschauliche Leben in einem kanadischen Provinzstädtchen wird eines Tages durch einen tragischen Unfall erschüttert. An einem Wintermorgen gerät ein Schulbus von der Straße ab, rutscht auf einen vereisten See, bricht ein und versinkt, wobei die Hälfte der jungen Passagiere ertrinkt. Für die überlebenden Kinder, die Busfahrerin, die Verwandten der Toten, die übrigen Bewohner der Ortschaft ist seitdem nichts mehr so wie zuvor: Das Unglück hat eine unheilbar scheinende Wunde im kollektiven Bewusstsein geschlagen. Kurz darauf trifft Rechtsanwalt Mitchell Stevens ein, um die Hinterbliebenen zu überreden, mit seiner Hilfe vor Gericht wenigstens Schmerzensgeld zu erstreiten. Stevens verfolgt sein Anliegen mit erstaunlicher Leidenschaft und voller Wut, nicht aus Profitgier, sondern weil es ihm ähnlich geht wie den Bewohnern des Städtchens. Er findet keinen Zugang mehr zu seiner Tochter, die drogensüchtig und HIV-positiv und damit dem Tode geweiht ist. Während einige der traumatisierten Eltern nur ihre Ruhe haben wollen, lassen sich andere von Stevens beeindrucken und erteilen ihm ein Mandat. Als sich die Konflikte in der kleinen Gemeinde zuspitzen, entscheidet sich die seit dem Unglück an den Rollstuhl gefesselte Schülerin Nicole für eine folgenreiche Notlüge, um auf diese Weise den anderen einen Weg zum Seelenfrieden zu eröffnen.
Regisseur Atom Egoyan ist nicht so sehr an den Umständen und Gründen für die Katastrophe interessiert, als an ihren psychologischen Auswirkungen. Auch der Unfall ist erst nach der Hälfte des Films zu sehen. Bewusst verzichtet Egoyan auf dramatische Szenen, die sich ein "Katastrophenfilmer" nicht entgehen lassen würde: Weder der vergebliche Kampf der Ertrinkenden noch die Rettung der Überlebenden werden explizit gezeigt. Dafür erfährt man in dem fast zweistündigen Psychodrama viel darüber, wie Menschen auf den unvorsehbaren Einbruch des Schrecklichen in ihre wohlgeordnete Existenz reagieren. Filme können für den aus Armenien stammenden und in Kanada lebenden Regisseur therapeutische Qualitäten haben: "Filme dienen dazu, die extremsten Dinge zu thematisieren, ihnen frontal zu begegnen und sie zu analysieren; sich das vorzustellen, vor dessen Begegnung man sich in der Wirklichkeit immer fürchtet."
Während die einen also den Verlust ihrer Kinder als unabänderliche Tatsache hinnehmen, versuchen andere, das Unglück möglichst bald zu vergessen oder einfach zu verdrängen. Eine andere Gruppe von Eltern findet jedoch im unaufhörlichen Versuch, das Geschehen verstehen zu wollen, keine Ruhe, sucht nach Ursachen und Schuldigen, sinnt auf Vergeltung. Langsam entfaltet sich die ganze Bandbreite der unterschiedlichen Reaktionen in einer eleganten Kombination aus Rückblenden und Parallelmontagen. Die bei manchen Trauernden verschwimmende Grenze zwischen Realität und (Alp-)Traum findet in der dargestellten Verschiebung von Zuvor und Danach ihre visuelle Entsprechung. Auch wenn die verschachtelte Erzählweise nicht so komplex wie in
Exotica oder so selbstreferenziell wie in
Calendar (1993) ausfällt, fordert der neue Film Egoyans, der beim Festival in Cannes 1997 mit dem Großen Preis der Jury und dem Preis der Internationalen Kritik ausgezeichnet wurde, dem Publikum doch eine hohe Konzentration ab – umso mehr als die imposanten Aufnahmen der einsamen kanadischen Landschaft eine geradezu meditative Ruhe ausstrahlen.
Der ambitionierten Reflexion über die menschliche Ohnmacht gegenüber dem Tod, sei er nun durch Tücken der Technik, menschliches Versagen oder ein blindes Schicksal verursacht, hat Egoyan mit der facettenreichen Figur des Anwalts eine weitere Tiefendimension hinzugefügt. Stevens bedient sich der Wut der Eltern nicht nur, um vor seinen eigenen Dämonen zu fliehen, nutzt seinen Beruf auch nicht bloß zur Kompensation von Schuldgefühlen gegenüber der Tochter. Er besitzt vielmehr mythische Qualitäten, wie Egoyan nahelegt. Wie Jago sät Stevens Zwist in den Herzen und wie der Rattenfänger von Hameln spielt er eine verführerische Melodie. Ian Holm verkörpert diesen Seelenfänger mit großer Intensität. Bis zum Schluss fasziniert in der eindrucksvollen Studie über das ethische Spannungsverhältnis von Schuld und Sühne, wie Egoyan in immer neuen Anläufen die zentrale Frage umkreist: Wie kann man mit einem traumatischen Erlebnis einer Katastrophe fertigwerden? Dem Zuschauer bleiben Antworten darauf wie auf die Frage nach der Bedeutung des Titels selbst überlassen. Wird die belastende Erinnerung an die Katastrophe dadurch erträglicher, dass man dafür einen "Schuldigen" findet? Oder gibt es eine Erlösung erst im "süßen" Jenseits?
Autor/in: Reinhard Kleber, 01.01.1998