Der etwa 20-jährige Cem wohnt in Westerland auf Sylt. Integriert in einen Freundes- und Familienkreis, macht er eine Lehre beim Ordnungsamt und holt abends sein Abitur für ein späteres Studium nach. An einem Wintertag begegnet er am Strand dem Gleichaltrigen Jesús, der dort auf einer Bank sitzt und sich eine Plastiktüte über dem Kopf gezogen hat. Jesús ist ein orientierungsloser Provokateur. Er kifft, klaut, hat Essstörungen und weicht nach einer vorsichtigen Annäherung nicht mehr von der Seite seines neuen Freundes. Die Anziehungskraft zwischen beiden ist Cems Umfeld unerklärlich. Sie wird so stark, dass Cem seine beruflichen Pläne und Freunde vernachlässigt, um sich nur noch Jesús zu widmen. Als dieser sich jedoch Cems Namen in die Haut ritzt, merkt Cem, dass er dieser Beziehung nicht gewachsen ist.
Westerland heißt das Spielfilmdebüt des Autors Tim Staffel, basierend auf seinem Roman
Jesús und Muhammed (2008).
Harte Schnitte fragmentieren die handlungsarme Entwicklung dieser Freundschaft. Die spröde Winterlandschaft mit ihrer
monochromen Farbgebung korrespondiert mit der introvertierten Art von Jesús. Als Metapher für die schwierige und einengende Beziehung dient Cems kleine Wohnung, die zunehmend vermüllt, sowie die Insellage des Handlungsorts. Konzentrierte
Großaufnahmen forschen nach Gefühlsregungen in den Gesichtern, da die Dialoge wortkarg und sehr direkt gehalten sind. Gelegentlich zeigt die Kamera die Weite des Horizonts und damit das Ausmaß eines Handlungsspielraumes, den sich beide versagen. Eindeutige sexuelle Momente fehlen. Der Film visualisiert die Intensität dieser Freundschaft mit anderen Codes, etwa wenn Jesús an Cems Kleidung schnuppert oder sie selbst trägt.
Warum zwei Menschen zueinanderfinden, ist für Außenstehende oft nicht nachvollziehbar. Dass ausgerechnet der lebenslustige Cem dem selbstzerstörerischen Jesús immer mehr Raum gibt, mag an seiner Hilfsbereitschaft liegen, seiner Aufgeschlossenheit gegenüber Schwächeren. Ein selten schöner Zug. Doch was passiert, wenn Liebe zu Abhängigkeit führt?
Westerland wertet nicht die Qualität der Beziehung, sondern konzentriert sich auf psychologische Verhaltensmuster des ungleichen Paares, die im Unterricht genauer betrachtet werden können. So lohnt sich eine Analyse der unterschiedlichen Erwartungshaltungen und Regeln der beiden Protagonisten. Spannend ist zudem, woran die Beziehung letztlich zerbricht: Denn anders als in vielen Coming-out-Dramen scheitert sie in
Westerland nicht am äußeren Druck der sozialen Umgebung.
Autor/in: Cristina Moles Kaupp, 20.02.2013
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