Hintergrund
Behinderte Eltern
Im realen Leben gehören behinderte, insbesondere geistig behinderte Menschen selten zum engeren Bekannten- und Freundeskreis. Ihre Existenz wird häufig durch Aussonderung ausgeblendet. In der Regel werden sie in gesonderten Einrichtungen erzogen, betreut und zu einfachen Arbeitsleistungen ausgebildet: Sonderkindergärten und -schulen, Heime, Wohngruppen und Werkstätten sind das Umfeld, in dem sie sich hauptsächlich bewegen. Sie und die sie betreuenden Angehörigen leben sozial und gesellschaftlich häufig in einer eher isolierten Situation, denn Kontakte über den eigenen familiären Rahmen und die Sondereinrichtungen hinaus sind schwer zu knüpfen und zu pflegen. Integrationsangebote sind rar, Hilfen, Unterstützung, regelmäßige Assistenz und Entlastungen darüber hinaus sehr teuer.
Reaktionen der Umwelt
Die Teilnahme am öffentlichen Leben ist eingeschränkt und häufig geprägt von gesellschaftlicher Ausgrenzung und Diskriminierung. Behinderte Menschen erfahren im Alltag ständig die Ablehnung ihres Andersseins durch peinlich berührtes und gezieltes Übersehen- oder voyeuristisches Angestarrt-Werden. Aber auch direkte Ablehnung und Feindseligkeit gehören zu den täglichen Erfahrungen. Erinnert sei an ein Urteil in Flensburg vor einigen Jahren, das einem Ehepaar Schadensersatz zusprach wegen entgangener Urlaubsfreuden, da es sich durch die Anwesenheit von behinderten Menschen im gemeinsamen Hotel gestört fühlte. Meldungen über den Protest anständiger BürgerInnen gegen die Ansiedlung einer Behinderteneinrichtung in ihrer nächster Nähe sind keine Seltenheit. Und auch hierzulande sind bereits Gerichtsurteile ergangen, mit denen die Geburt eines behinderten Kindes als Schaden anerkannt und mit Schadensersatzzahlungen entschädigt wurde.
Medizinische "Hilfe"-Stellung
Nicht gewollt und unerwünscht zu sein ist eine lebensbegleitende Erfahrung von behinderten Menschen. Verschärft wird diese behindertenfeindliche Einstellung und Praxis durch die neuen reproduktionsmedizinischen Entwicklungen. Mit Hilfe der Pränataldiagnostik (PD) und der Präimplantationsdiagnostik (PID) ist es heute schon möglich – und wird zunehmend praktiziert – eine Schwangerschaft bzw. Geburt bei der Gefahr bestimmter Behinderungen (z. B. Down-Syndrom) auszuschließen.
Anti-Diskriminierung
Eine gegenläufige, minoritäre Bewegung von Betroffenen, ihren Angehörigen und professionellen HelferInnen, die in Verbänden und Selbsthilfe-Gruppen organisiert sind, hat einiges an Öffentlichkeits- und Aufklärungsarbeit geleistet. Vor allem in den USA wurden Erfolge erzielt mit der Durchsetzung von Anti-Diskriminierungs-Gesetzen und konkreten Verbesserungen z. B. bei Auflagen und Kreditvergabe-Kriterien für die Erstellung/Veränderung von öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln.
Betreuung – aber wie?
Sozialpolitisch besteht in aufgeklärten Gesellschaften weitgehend Konsens, dass behinderte Menschen versorgt und betreut werden sollen. Über die Qualität der Angebote, die Selbstverständlichkeit der Einbeziehung von behinderten Menschen in das öffentliche und allgemeine Alltagsleben, über das zu akzeptierende Anspruchsniveau der Betroffenen und ihrer BetreuerInnen gibt es allerdings unterschiedliche Meinungen.
Recht auf Sexualität
Eine dieser kontrovers diskutierten Fragen war (und ist teilweise noch heute) die, ob Behinderte wie alle Menschen ein "Recht auf Sexualität" haben. Und was passiert, wenn sie Kinder bekommen? Behinderte Eltern, das war/ist für viele nicht vorstellbar. Bis zum Inkrafttreten des Betreuungsgesetzes 1992 war es daher üblich, dass vor allem geistig behinderte, minderjährige Mädchen und junge Frauen auf Wunsch der Eltern sterilisiert wurden. Trotz der seit zehn Jahren vermehrten Anwendung anderer Verhütungsmittel kommt es dennoch – wie bei anderen Paaren auch – zu Schwangerschaften, gewollt und ungewollt. Die Erfahrungen zeigen, dass behinderte Eltern ihre Kinder genauso lieben wie nicht-behinderte Eltern, ihnen in gleicher Weise Urvertrauen, Emotionalität, Beziehungs- und Bindungsfähigkeit vermitteln. Intellektuelle Einschränkungen bedeuten nicht emotionale und psychische Beschränkung. Das Verhalten geistig behinderter Eltern zeigt eine große Bandbreite, es gibt auch hier "gute" und "schlechte" Eltern.
Soziale Verantwortung
Angehörige sind mit der Behinderung eines Mitglieds ihrer Familie auf Hilfe von "außen" angewiesen. Für behinderte Eltern kann in vergleichbarer Weise Hilfe, Unterstützung und Assistenz geboten werden, so dass ihren Kindern die notwendige und angemessene Förderung zukommt und das Miteinander-Leben gleichzeitig möglich ist. Das gilt auch dann, wenn ein Kind geistig behinderter Eltern in einer Pflege- oder Adoptivfamilie " fremdplatziert" wird/werden muss. Dabei sollten gegenseitige Information, Kontakte und Anteilnahme am weiteren Lebensweg von Kind und Eltern selbstverständlich sein. Die elterliche Verantwortung wird so zu einer sozialen Verantwortung und von mehreren Menschen getragen. Dieses Prinzip gilt auch bei nicht behinderten Eltern, nur das Ausmaß ist geringer. Welche Eltern brauchen nicht – ab und zu jedenfalls – Hilfe, Zuwendung, Trost, Unterstützung, Entlastung durch wohlmeinende und kompetente Mit-Menschen?
Szene aus dem Film "Ich bin Sam"
... und die Kinder?
Kinder gehen sehr selbstverständlich und unbefangen mit den verschiedenen Eigenheiten von Menschen um. Erst die gesellschaftlichen Kriterien von "Normalität" und "Abweichung" führen zu der Stigmatisierung und Diskriminierung, von denen behinderte Menschen und ihre Angehörigen betroffen sind. Literaturhinweise: Gisela Hermes (Hg): Krücken, Babys und Barrieren. bifos Schriftenreihe Pixa-Kettner, Bargfrede, Blanken: "Dann waren sie sauer auf mich, dass ich das Kind haben wollte ..."; Nomos-Verlagsgesellschaft
Autor/in: Regula Bott, 21.09.2006