Von der Kurzformel "Der Film über die erste Pizzeria im Ruhrgebiet" sollte man sich nicht irreführen lassen.
Solino ist ein breit angelegtes dramatisches Filmepos, das über 30 Jahre hinweg die Entwicklung einer italienischen Gastarbeiterfamilie in Deutschland und vor allem einen klassischen Bruderzwist schildert . Im Mittelpunkt dieser Entwicklung stehen zwei elementare Fragen: Was ist Heimat? Und wie findet man trotz widriger Lebensumstände sein persönliches Glück?
Zwischen zwei Kulturen
Der authentisch wirkenden Inszenierung von Fatih Akin merkt man den biografischen Background an: Seine türkischen Eltern sind vor Jahrzehnten als so genannte Gastarbeiter nach Deutschland gekommen und als Vertreter der zweiten Immigrantengeneration kennt er den Konflikt, quasi zwischen zwei Kulturen zu stehen, aus eigener Anschauung. Bereits in seinen Spielfilmen
Kurz und schmerzlos und
Im Juli hat sich der gebürtige Hamburger überzeugend auf verschiedenen Ebenen mit multikulturellen Milieus auseinander gesetzt und sich damit als eines der größten Nachwuchstalente des deutschen Kinos etabliert. Mit
Solino hat er mit dem Buch von Ruth Toma (
Gloomy Sunday), die darin die Familiengeschichte ihres Lebensgefährten verarbeitete, erstmals einen fremden Stoff verfilmt.
Die Story
1964 verlassen die Brüder Gigi und Giancarlo mit ihren Eltern ihr sonniges Heimatdorf in Süditalien und ziehen ins düstere Ruhrgebiet. In Duisburg eröffnet die Familie kurz darauf die erste Pizzeria des Reviers. Während Vater Romano völlig in seiner Rolle als Gastwirt aufgeht und Mutter Rosa auch nach Jahren überwiegend in der unterirdisch gelegenen Küche der Gaststätte unter unstillbarem Heimweh leidet, leben sich die Brüder rasch ein und machen erste Erfahrungen mit der Freiheit, der Musik und dem ersten Joint. Als sie sich in dasselbe Mädchen verlieben, kommt es zu einem ernsthaften Konflikt. Gerade als Gigis Traum von einer Karriere als Filmemacher in greifbare Nähe rückt, muss er nach Apulien reisen, wohin seine leukämiekranke Mutter nach einem Ehebruch ihres Mannes zurückgekehrt ist. Giancarlo hintergeht den jüngeren Bruder gleich mehrfach und führt damit den endgültigen Bruch herbei. Erst zehn Jahre später sehen sich die Brüder wieder.
Verschiedene Lebensentwürfe
Der deutsche Kinostar Moritz Bleibtreu und der Newcomer Barnaby Metschurat (
Julietta) ergänzen sich als ungleiches Bruderpaar geradezu ideal. In ihren Figuren fokussieren sich zugleich zwei paradigmatische Lebensentwürfe von Immigrantenkindern. Obwohl der robuste Giancarlo sich in erster Linie über seine italienischen Wurzeln und den Machismo definiert, bleibt gerade er in der Fremde und macht mit einer erschwindelten Identität sogar Karriere als TV-Redakteur. Der strebsame Gigi dagegen, der nur noch radebrechend Italienisch spricht, verzichtet auf die Erfüllung seines beruflichen Lebenstraums in der neuen Heimat und findet sein privates Glück in Apulien, wo er mit seiner Freundin aus Kindertagen ein Freiluftkino reaktiviert und eine Familie gründet.
Sprachkompetenz
Die Eltern setzen im Spannungsfeld zwischen Integration und Rückkehr andere Akzente und erweitern so das dargestellte Spektrum typischer Migrantenschicksale auf anschauliche Weise. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Sprachkompetenz. Die Mutter Rosa, die nur widerwillig auswandert und eine mehr als oberflächliche Anpassung verweigert, lernt in ihrer kleinen Küche nie richtig Deutsch. Bezeichnenderweise nennt sie das Restaurant nach ihrem Heimatdorf. Dagegen gelingt dem Vater Romano nicht zuletzt dank seiner Sprachkenntnisse und seines Charmes im Umgang mit der (weiblichen) Kundschaft der soziale Aufstieg als Betreiber eines florierenden Lokals. Nach dem Ehebruch Romanos und der Diagnose der eigenen Krebserkrankung folgt Rosa jedoch ihren nostalgischen Gefühlen und findet in der Sonne der Heimat zu sich selbst zurück. Der vereinsamte Romano, der sich in der Fremde ein besseres Leben erhofft hatte, wandelt seinen 'Gastarbeiter'-Status in einen Daueraufenthalt in Duisburg um, den er – stets auf das Sozialprestige bedacht – auch dann nicht mehr revidiert, als die Gäste allmählich ausbleiben.
Filmdramaturgie
Das Familienporträt wird in drei Blöcken erzählt, die 1964, 1974 und 1984 spielen. In der ersten und der dritten Zeitebene werden vor allem die Kontraste der Lebenswelten in beiden Ländern hervorgehoben, wobei Akin die düsteren Farben des kühlen Ruhrgebiets und die Heiterkeit Apuliens und seiner gefühlsbetonten Bewohner gelegentlich etwas zu kräftig aufträgt. Schwächen zeigen sich insbesondere auf der mittleren Ebene. Der hier dominierende Bruderkonflikt wirkt trotz der vordergründigen dramatischen Zuspitzung manchmal diffus, weil zentrale Motive unklar bleiben: Warum etwa sucht der zurückgekehrte Gigi nicht die Aussprache mit seiner heiß geliebten, aber untreuen Freundin, die sang- und klanglos aus dem Film verschwindet? Was treibt den 'bösen' Bruder zu seinen fortgesetzten Untaten gegen das Nesthäkchen der Familie? Und wie schafft es der betrügerische Giancarlo, allein mit einer falschen Künstlerlegende beim Fernsehen zu reüssieren?
Werthaltungen
Wenn sich am Ende der Kreis mit einem Wiedersehen im süditalienischen Original-Solino wieder schließt, versöhnt uns die kraftvolle Inszenierung des Familiendramas jedoch mit einem intelligenten Schluss, der zum Nachdenken über die wahren Werte des Lebens und den eigenen Weg zwischen romantischen Idealen und realistischer Machbarkeit anregt.
Autor/in: Reinhard Kleber, 01.11.2002