Dieses Gefühl von Fremdheit - eine kleine Filmographie
Dieses Gefühl von Fremdheit: Anderswo sein – in einem Land vielleicht, dessen Sprache man nicht versteht; Isolation erleben, weil Kommunikation nicht möglich ist. Es gibt kaum einen Film, der diese existenzielle Fremdheit so genau umreißt wie Das Schweigen (Schweden 1963; R: Ingmar Bergman; D: Ingrid Thulin, Gunnel Lindblom u. a.). Zwei Frauen und ein Kind in einer Welt, die feindlich wirkt, weil man sie nicht begreift. Es ist der Zufall, der die Frauen in das fremde Land verschlägt. Aber es gibt viele Möglichkeiten, in eine Fremde zu geraten. Auch eine politische Umwälzung kann Gefühle der Entfremdung zur Folge haben, so wie die Wiedervereinigung Deutschlands neue Fremdheit ausgelöst hat. Davon handelt Herzsprung (Deutschland 1992; R: Helke Misselwitz; D: Claudia Geisler, Günter Lamprecht, Eva-Maria Hagen u. a.). Wer fremd geworden ist im eigenen Land, grenzt dann auch eher aus, beispielsweise den, der eine andere Hautfarbe hat. In Herzsprung geht es ebenfalls darum. Ein ganz anderer Fall: Ein Kind ist außerhalb der Zivilisation aufgewachsen, Tiere haben es aufgezogen, es hat nie sprechen gelernt. Der Wolfsjunge (Frankreich 1969/70; R: François Truffaut; D: Jean-Pierre Cargol, François Truffaut u. a.) zeigt, wie die Zivilisationsversuche des Arztes Itard an diesem Kind zuletzt an der Sprache scheitern. Es ist aber auch möglich, dass Kulturen einander nicht anzunähern sind, weil sie von ganz unvereinbaren Weltbildern ausgehen. Die Eingeborenen Australiens hüten jene Traumpfade, die weiße Techniker auf ihrer Suche nach Bodenschätzen zerstören. Die Standpunkte der beiden Gruppen bleiben sich absolut fremd. Das ist das Thema von Wo die grünen Ameisen träumen (BR Deutschland 1984; R: Werner Herzog; D: Bruce Spence, Banduk Marika u. a.).
Ein anderes Gefühl von Fremdheit. Sich fremd fühlen in einer Welt, die doch vertraut sein müsste. Aber sie ist nur vertraut, wenn man ihre Normen erfüllt. Wenn man sich dem Funktionieren dieser Normen verweigert, kann sie gnadenlos fremd werden. Die Sanfte (Frankreich 1968/69; R: Robert Bresson; D: Dominique Sanda, Guy Frangin u. a.) erzählt von einer Frau, die zu sensibel ist für eine gewöhnliche Ehe. Sie wirft sich vom Balkon. Der Fremde (Italien/Frankreich 1967; R: Luchino Visconti; D: Marcello Mastroianni, Anna Karina u. a.) erzählt von einem Mann, der "die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt" konsequent auslebt und ohne Emotionen zum Mörder wird. Er wird zum Tode verurteilt. Jene, die von der Norm abweichen, tendieren dazu, von den Normierten zu Opfern definiert zu werden. Exemplarisch analysiert diesen Mechanismus Jagdszenen aus Niederbayern (BR Deutschland 1968; R: Peter Fleischmann; D: Martin Sperr, Angela Winkler, Hanna Schygulla u. a.). Einem homosexuellen Außenseiter wird ein Mord unterstellt. Er wird zum gehetzten Wild in einer sozialen Treibjagd. Wenn man die gesellschaftlichen Masken nicht mehr akzeptiert, bleibt oft nur die Nacktheit gescheiterter Lebensentwürfe, gerade in einer modernen Großstadt wie London. Das zeigt in dunklen, nahezu apokalyptischen Bildern Nackt (Großbritannien 1992/93; R: Mike Leigh; D: David Thewlis, Lesley Sharp, Katrin Cartlidge u.a.).
Als Letzte und äußerste Fremdheit bleibt die Fremdheit im eigenen Körper, wie sie Schizophrene erleben. Robert Louis Stevenson hat für die Seelenspaltung das berühmte Bild vom Wissenschaftler gefunden, der sich in einen skrupellosen Killer verwandelt. Sein Roman Dr.Jekyll und Mr. Hyde ist immer wieder verfilmt worden. Die berühmteste Version ist wohl die von Rouben Mamoulian aus dem Jahr 1931. Es gibt aber auch einen ganz aktuellen Film, der die Fremdheit einer schizophrenen Wahrnehmung als Rätsel auf den Zuschauer überträgt: Lost Highway (USA 1996; R: David Lynch; D: Bill Pullman, Patricia Arquette u.a.). Fremd in der Welt, Opfer der Normierten, verloren gegangen in sich selbst – dieses Gefühl, anders zu sein.
Autor/in: Herbert Heinzelman, 12.12.2006