'Unheimliche' Rekorde
Weltweit wandelt sich die Arbeit. In allen Bereichen des wirtschaftlichen Lebens verdrängen Computer, Roboter und andere Technologien des Informationszeitalters die menschliche Arbeitskraft. Augenfällig ist dieser Trend auch in Deutschland, wo die Massenarbeitslosigkeit immer neue Rekordzahlen produziert. Von durchschnittlich 1,83 Millionen Arbeitslosen 1982 stieg die Zahl über 2,98 Millionen (1992) auf 4,15 Millionen registrierte Arbeitslose im Jahre 1996. Das Beschäftigungsproblem ist jedoch weit größer, als die offizielle Statistik ausweist. Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung fehlen annähernd 10 Millionen reguläre Arbeitsstellen, denn zu den registrierten Arbeitslosen müssen die nicht gemeldeten Arbeitssuchenden, die Personen in Umschulung, Fortbildung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die subventionierten Arbeitsplätze hinzugerechnet werden.
Hinter diesen Zahlen verbergen sich unzählige individuelle Katastrophen. Für Oskar Negt, Professor für Sozialwissenschaften an der Universität Hannover, ist die Arbeitslosigkeit ein "Gewaltakt, ein(en) Anschlag auf die körperliche und geistig-seelische Integrität, auf die Unversehrtheit der davon betroffenen Menschen". In einer Studie hat der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter nachgewiesen, welcher psychische Druck auf Menschen ohne Beschäftigung lastet. Die Betroffenen sind häufiger missgestimmt, kontaktscheu, machen sich mehr Vorwürfe als die durchschnittliche Bevölkerung. Auch lassen sich verstärkt Argwohn, Misstrauen gegenüber anderen und Schuldgefühle beobachten. Die psychischen Beeinträchtigungen reichen bis zu Schlaf- und Verhaltensstörungen, Depressionen, Alkoholismus oder verstärkter Gewaltbereitschaft. Hinzu kommt eine zunehmend schwierigere finanzielle und materielle Situation. Durch die Zunahme der Langzeitarbeitslosigkeit rutschen immer mehr Betroffene in die Sozialhilfe ab. Nach dem Armutsbericht des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes leben mehr als 10 % der deutschen Bevölkerung in Einkommensarmut, 2,2 Millionen Kinder gelten nach EU-Definition als arm. 1,5 Millionen Haushalte sind verschuldet, 150 000 Menschen leben auf der Straße, etwa 500 000 Kinder in Obdachlosenheimen, mehr als 800 000 Menschen in Notunterkünften.
Die Versuche, Massenarbeitslosigkeit und Verarmung zu bekämpfen, setzen fast ausschließlich auf dem freien Markt und dem öffentlichen Sektor an. Gängige Strategien zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit, wie Verbesserung der ökonomischen Rahmenbedingungen, staatliche Investitionsprogramme, Arbeitszeitverkürzung und -flexibilisierung, ökologische Umbauprogramme, können den Anstieg der Arbeitslosenzahlen mittelfristig allenfalls verlangsamen. Parteien, Gewerkschaften und Wissenschaftler gehen davon aus, dass auch längerfristig ein Mangel an Erwerbsarbeit herrschen wird und plädieren deshalb für eine Umverteilung der Arbeit. Erwerbsarbeit und private Arbeit sollen anders gewichtet und auch die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern verändert werden. Jeremy Rifkin, der Vorsitzende der Foundation on Economic Trends in Washington, schlägt beispielsweise vor, die Jobkrise durch eine Stärkung des gemeinnützigen Sektors zu überwinden. Finanziert durch Abgaben der Wirtschaft sollen die gemeinnützigen Aktivitäten gefördert werden. In Deutschland bieten die mehr als 300 000 gemeinnützigen Organisationen, Initiativen und Projekte die Basis für neue Arbeitsplätze. Dieser Non-Profit-Bereich zwischen Markt und Staat könnte finanziell garantiert werden und so zu einem beschäftigungspolitischen Hauptakteur avancieren.
Literaturhinweise:
Hans-Peter Martin, Harald Schumann: Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1996
Horst Friedrich, Michael Wiedenmeyer: Arbeitslosigkeit – ein Dauerproblem. Dimensionen, Ursachen, Strategien. Leske + Budrich, 3. neu überarbeitete Auflage, Leverkusen, Oktober 1997
Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Arbeit und Wirtschaft. In: Das Parlament, Themenausgabe 35/95, Bonn, 1995
Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B-15/95 (mit Aufsätzen von Oskar Negt, Ulrich van Suntum, Elmar Altvater und Robert Reichling). Bonn, 1995
Autor/in: Hanns-Jörg Sippel (punctum, Bonn), 12.12.2006