Identität und Fremdheit
Als fremd wird im umfassenden Sinn angesehen, was unbekannt ist, worüber wir nichts wissen. Im engeren Sinn gilt das als fremd, was uns im Umgang unvertraut erscheint, was nicht in vorhandenes Wissen und Erfahrung eingegliedert werden kann. Für beide geläufige Bedeutungen des Fremden lassen sich aber zahlreiche Gegenbeispiele anführen, also Fälle, in denen auch das Bekannte und Vertraute fremd erscheint. Diesen 'Widerspruch' hat Georg Simmel aus der Dialektik von Ferne und Nähe gedeutet. Sein Sinnbild des Fremden ist der Wanderer, nicht derjenige, der heute kommt und morgen geht, sondern der Wanderer, der heute kommt und morgen bleibt. Das Unbekannte, das uns nicht betrifft, das Unvertraute, das uns nicht stört oder anzieht, ist uns nur vordergründig fremd. Das Fremde im engen Sinn betrifft uns in unserem Selbstverständnis; es ist all das, was Bestand und Beständigkeit des Selbst, unsere Identität, in Frage stellt. Es kommt dabei weniger darauf an, ob das andere unbekannt oder bekannt, unvertraut oder vertraut ist – das andere wird dadurch fremd, dass es die Eigenheit, die personale oder soziale Identität herausfordert.
Herausforderung heißt, dass Standards des anderen Geltung beanspruchen, die dem Kern unserer Eigenheit, unseren Identitätsstandards, entgegenstehen. Das Fremde als Herausforderung unserer Identität kann uns helfen, unserem Ideal-Selbst besser gerecht zu werden, es kann uns aber auch daran hindern, wir selbst zu bleiben. Die typische Reaktionsform auf das Unbekannte und Unvertraute, das Standards der Identität nicht berührt, ist Indifferenz. Fremdheit setzt Bekanntheit und Vertrautheit in dem Maße voraus, dass eine Person zwar die Berührung ihrer Identitätsstandards erkennt, aber keine Gewissheit gewinnt, ob das andere die eigene Identität produktiv oder destruktiv beeinflusst. Die typische Reaktionsform auf das Fremde ist deshalb Ambivalenz: Das Fremde bietet eine Möglichkeit zur Vergewisserung und Entwicklung unserer Identität. Im Spiegel des Fremden erkennen wir nicht nur, wer wir sind, sondern wir können auch erkennen, wer wir sein wollen. Darin liegt die Chance der Herausforderung durch das Fremde – so weit wir sie aufgreifen, kann uns das Fremde anziehen und faszinieren. Gleichzeitig birgt das Fremde die Gefahr einer Beeinträchtigung unserer Identität. Indem es Identitätsansprüche negiert, bedroht es sie in ihrem Bestand und in ihrer Beständigkeit – insofern wird das Fremde als Bedrohung erfahren. Wenn zum Beispiel einem Deutschen im Ausland als solchem Tüchtigkeit und Disziplin attestiert werden, mag ihm das übertrieben, vielleicht auch merkwürdig vorkommen; 'herausgefordert' fühlt er sich wahrscheinlich nicht. Werden ihm jedoch Kälte, Brutalität und Egoismus zugeschrieben, fühlt er sich in zentralen Bereichen seiner Identität in Frage gestellt und bedroht, da er nach einem negativen Stereotyp beurteilt wird, das seine Identitätsansprüche berührt und verletzt.
Minderheiten, die durch gemeinsame Pflege von Traditionen, Überzeugungen und Lebensweisen den Standards einer eingesessenen sozialen Identität nicht entsprechen, können als Bereicherung oder als Bedrohung für die eigene Kultur erfahren werden. Als Herausforderer einer etablierten Identität tragen Minderheiten der Ambivalenz des Fremden Rechnung: Sie sind Teil der Gesellschaft und Fremde darin, sie sind fern und nah zugleich. Minderheiten werden ausgegliedert und verfolgt, sie werden aber auch eingegliedert und geschützt. Das Verhältnis der Mehrheit zu ihnen hängt davon ab, wie die Mehrheit deren Bedeutung für ihren eigenen Bestand einschätzt. Bei dieser Einschätzung und damit für den Umgang mit den Angehörigen der Minderheit sind die Identitätsstandards der Mehrheit maßgebend. Wird die Herausforderung aber nicht angenommen, setzen sich sozialen Stereotypen folgende, fremdenfreundliche (xenophile) oder fremdenfeindliche (xenophobische) Reaktionsweisen durch. Im letzteren Fall wird die Sorge um Bestand und Beständigkeit der Identität dieser Gemeinschaft durch Angst und Feindseligkeit geprägt. Die Herausforderung, so weit sie bloß als Gefühl der Bedrohung und der Angst erfahren wird, ist eine Kraft, die einer Differenzierung des Bildes vom anderen beständig entgegenwirkt und im Extrem die abstrakte Feind-Schablone hervorbringt.
Mit dem Postulat der 'Annahme der Herausforderung durch das Fremde' ist nicht die unterschiedslose Akzeptanz oder Duldung all dessen gemeint, was als fremd erscheint, sondern eine grundsätzliche Bereitschaft, den anderen in seiner Eigenart zu respektieren und ihm die Auseinandersetzung mit den Geltungsansprüchen seiner Identität nicht zu verweigern. Eine Klärung der produktiven oder destruktiven Aspekte dieser Ansprüche schließt ihre Rückweisung nicht aus. So kann die Ablehnung von offensichtlich chauvinistischen oder fundamentalistischen Ansprüchen dringend geboten sein, selbst oder gerade, wenn diese zum angeblichen Wohl einer Gemeinschaft und ihrer Identität vorgebracht werden. Die Annahme der Herausforderung, die Anerkennung einer geschuldeten Auseinandersetzung mit dem, wer die Fremden sind und was sie beanspruchen, ist Voraussetzung, das Zusammenleben von Einheimischen und Fremden in verlässlichen Formen zu verankern. Erst dann wird das wechselseitige Kennenlernen eine gelungene Kommunikation und ein kontinuierliches Miteinander ermöglichen.
Autor/in: Bernd Schäfer (Sozialpsychologe), 12.12.2006