Bagdad im Winter 2006. US-Präsident George W. Bush hat den Irakkrieg schon vor mehr als drei Jahren für beendet erklärt, doch noch immer ist das Land von den US-geführten Truppen der "Koalition der Willigen" besetzt – und der Alltag der Bevölkerung von Bombenanschlägen, Gefechten zwischen verfeindeten Milizen, Ausgangssperren und Entführungen geprägt. Die alleinerziehende Schriftstellerin Sara, die wegen der Kriegsschrecken kein Wort mehr zu Papier bringt, und weitere Bewohner/-innen ihres Viertels versuchen, trotz der ständigen Bedrohung ein Stück Normalität zu bewahren. Wie ihr Bruder Yahya und viele andere überlegt Sara zwar, mit ihrer achtjährigen Tochter Reema ins Exil zu gehen. Doch ihre Heimatliebe und die Verbundenheit mit Freund/-innen und Nachbar/-innen halten sie davon ab. Dazu zählen die Christin Sabiha, die bedroht wird, weil sie einen Weihnachtsbaum aufstellt, und der Taxifahrer Kamal, der sich gefälschte Dokumente beschafft, um als Buchhalter arbeiten zu können. Indem Sara ihren Schicksalsgenoss/-innen seelischen Beistand leistet, bewahrt sie sich allen Rückschlägen zum Trotz ihren Lebensmut.
In ihrem ersten langen Spielfilm führt die irakstämmige Regisseurin Maysoon Pachachi, die in London Filmregie studiert hat und dort lebt, Sara als zentrale Schaltstelle in einem fein gesponnenen Beziehungsnetz ein. In kurzen Episoden sehen wir, wie sie und ihre Mitmenschen mit Sarkasmus, Humor und Widerstandsgeist den täglichen Zumutungen die Stirn bieten. Die
ruhige Kamera bleibt meist
nah an den Figuren und folgt ihnen durchs Viertel, wo sie immer wieder auf Ruinen, Autowracks und Todesopfer stoßen. Gewaltakte zeigt der an
Originalschauplätzen im Irak gedrehte Film nur indirekt, so hören wir eine Bombenexplosion, sehen aber nur Qualm und Feuer. US-Besatzungssoldat/-innen erscheinen nicht im Bild, ihre Präsenz bekunden aber Radioberichte. Mit seinem breiten Figurenarsenal und seinen ständigen
Szenenwechseln steht der Film formal in der Nachfolge des Multifigurenklassikers
Short Cuts (Robert Altman, USA 1993), jedoch verknüpft Maysoon Pachachi die Episoden nur locker und wahrt stets Distanz zu den Ereignissen.
UNSER FLUSS... UNSER HIMMEL / Off. Kinotrailer Dtl. / Start 06. Juli 2023 from barnsteiner-film on Vimeo.
Angesichts der Komplexität der politischen Lage im Irak nach dem Sturz des Diktators Saddam Hussein (1937-2006) empfiehlt es sich, die Filmsichtung im Unterricht entsprechend vorzubereiten. Im Fach Politik bietet der Film Anlass, die Spannungen zwischen ethnischen und religiösen Gruppen und die prekäre Lage von Minderheiten in dem Land zu untersuchen. Warum flieht die Christin Sabiha? Und warum rät Sara ihrer Tochter "Sage immer, dass Du Irakerin bist", als Reema berichtet, dass sie in der Schule gefragt wurde, ob sie Sunnitin oder Schiitin sei? Mehrfach zeigt das subtile Ensembledrama, wie stark die Korruption im Land das Alltagsleben überschattet. So gibt Yahya seine Stelle als Bauprüfer auf, weil seine bestochenen Kollegen einen Neubau genehmigt haben, der mit minderwertigen Materialien errichtet wurde. Im Fach Sozialkunde können die Schüler/-innen diskutieren, inwieweit allgegenwärtige Korruption das Vertrauen der Bürger/-innen in das Gemeinwesen untergräbt. Interessant ist
Unser Fluss… Unser Himmel nicht zuletzt, weil er aus der Perspektive von Iraker/-innen erzählt ist. Wie unterscheidet sich die Darstellung der Einheimischen im Vergleich zu jener in Hollywoodfilmen über den Irakkrieg wie etwa
Tödliches Kommando – The Hurt Locker (
The Hurt Locker, Kathryn Bigelow, USA 2008) oder
American Sniper (Clint Eastwood, USA 2014)?
Autor/in: Reinhard Kleber, 26.06.2023
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