Der Dokumentarfilm von Volker Koepp begibt sich auf Spurensuche nach der bewegten Geschichte eines vergessenen Landstrichs im ehemaligen deutschen Osten, einer schmalen Landzunge, auf der bis in die Gegenwart hinein verschiedene Nationalitäten zusammenleben. Die Kurische Nehrung liegt dort, wo die Memel durch ein Delta in das Kurische Haff und in die Ostsee mündet. Der 98 Kilometer lange und nur wenige hundert Meter breite Landstreifen ist von Wanderdünen, Vogelzügen und dem vom Meer her blasenden Wind geprägt und bewog einst den Schriftsteller Thomas Mann, sich dort ein Feriendomizil zu kaufen. Eine politische Grenze teilt die Nehrung: Der nördliche Teil gehört zu Litauen, der südliche zu Russland, und einige der Bewohner/innen, die der Film auf beiden Seiten der Grenze vorstellt, können sogar noch Deutsch.
Detaillierte Informationen aus dem Off, liebevoll geführte Interviews mit den Bewohnern/innen diesseits und jenseits der Grenze und atmosphärisch dicht inszenierte Aufnahmen der Landschaft und der dort lebenden Menschen vermitteln mehr von dem bis heute erhalten gebliebenen Zauber der Natur und der wechselvollen Geschichte der Nehrung, als es das beste Geschichtsbuch könnte. Da ist von Flucht und Vertreibung die Rede, von Ausgrenzung, dem schwierigen Überleben unter einem totalitären Regime, der Versöhnung, der Wiederbegegnung mit der alten Heimat nach Jahrzehnten und dem Brückenschlag zwischen Ost und West in einem geeinten Europa. Aufschlussreich sind auch die sehr unterschiedlichen Reaktionen der Generationen. Sie reichen von der Sorge der Jugendlichen um den Erhalt ihres Arbeitsplatzes über die Beschwörung des Eheglücks im Hier und Heute bis zur Melancholie eines arbeitslosen Filmvorführers, für den die Zeit zum Stillstand gekommen ist. Der deutsche Filmemacher Volker Koepp gestaltet die Annäherung an das Land und die dort lebenden Menschen als offenen Dialog und agiert dabei so behutsam und sensibel, dass sich die Fremden bereitwillig der Kamera öffnen. Genau das markiert neben den schönen Bildern die wesentliche Qualität dieses Dokumentarfilms.
Autor/in: Holger Twele, 19.10.2006