1943 räumt die deutsche Besatzungsmacht gewaltsam das jüdische Ghetto in der damals polnischen Vielvölkerstadt Lemberg (polnisch: Lvóv). Der katholische Kanalarbeiter und Gelegenheitsdieb Socha entdeckt in der Kanalisation der Stadt eine Gruppe geflüchteter Juden, die ihm Geld anbieten, wenn er sie versteckt. Obwohl ihm dafür die Todesstrafe droht, willigt er ein – zunächst aus finanziellen Gründen, später aus reiner Menschlichkeit. Allerdings kann er nur zehn Juden helfen, da er nur für so viele Lebensmittel beschaffen kann. Zu deren Anführer avanciert der mutige Mundek, der sich in die junge Klara verliebt. In ihrem dunklen Versteck voller Ratten, Nässe und Gestank müssen die Juden Klassenunterschiede und Streitereien überwinden, wenn sie überleben wollen.
Film und Buchvorlage beruhen auf realen Ereignissen: 14 Monate lang überlebte eine Gruppe von Juden im Jahr 1943 in der Kanalisation von Lemberg. Folglich spielt der Löwenteil von Agnieszka Hollands authentisch wirkendem Holocaust-Drama in der klaustrophobischen Enge und der erdrückenden Dunkelheit von Kanälen. Die erfahrene Kamerafrau Jolanta Dylewska hat diese Aufgabe überzeugend durch eine suggestive Lichtführung gelöst, die wie eine Taschenlampe einzelne Personen aus der schattenhaften Düsternis hervorhebt. Lange Einstellungen verstärken zudem bei den Zuschauer/innen das Gefühl, sich ebenfalls im Untergrund der Kanalisation zu befinden. Erschwerend für die angestrebte Identifikation ist allerdings das unübersichtliche Figurenarsenal.
Die 1948 in Warschau geborene Regisseurin, die sich bei
Hitlerjunge Salomon (Deutschland, Polen, Frankreich 1990) schon einmal mit dem Holocaust befasst hat, vermeidet weitgehend Gräuelbilder ebenso wie pathetische Überhöhungen – sieht man von Klischeebildern musizierender jüdischer KZ-Insassen/innen ab. Dies dürfte in Verbindung mit den starken Schauspielerleistungen die Hinführung junger Zuschauer/innen zu Schlüsselerfahrungen des Zweiten Weltkrieges wie Judenverfolgung, Rassismus, Kollaboration und Widerstand erleichtern. Die hochdramatische Konstellation des Plots regt im Unterricht zu Diskussionen über ethische Fragen an: Wie bewahrt man sich Menschlichkeit im Angesicht des Schreckens? Welche Mittel rechtfertigen das Überleben? Zur Diskussionstiefe trägt bei, dass die Figuren durchweg gebrochen sind: Die jüdischen Flüchtlinge zeigen ebenso ambivalente Charakterzüge wie auch Socha selbst, der sich vom opportunistischen Dieb zum altruistischen Helfer wandelt.
Autor/in: Reinhard Kleber, 08.02.2012
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