Kinostart: 28.04.2022 Verleih:Pandora Film Verleih Regie: Andreas Dresen Drehbuch: Laila Stieler Darsteller/innen: Meltem Kaptan, Alexander Scheer, Charly Hübner, Nazmî Kirik, Sevda Polat, Abdullah Emre Öztürk, Jeanette Spassova, Abak Safael-Rad, Alexander Hörbe u.a. Kamera: Andreas Höfer Laufzeit: 118 min, deutsche Originalfassung Format: digital, Farbe Barrierefreie Fassung: ja Filmpreise: Berlinale 2022: Silberner Bär für die beste Hauptrolle (Meltem Kaptan), Silberner Bär für das beste Drehbuch (Laila Stieler), Gilde Filmpreis FSK: ab 6 J. Altersempfehlung: ab 14 J. Klassenstufen:ab 9. Klasse Themen:(Deutsche) Geschichte, USA, Recht, Folter, Menschenrechte/-würde Unterrichtsfächer:Politik, Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch
"Guantánamo, was ist das?" Rabiye Kurnaz versteht die Welt nicht mehr. Sie hat durchaus mitbekommen, dass ihr Sohn Murat in den letzten Jahren immer religiöser wurde. Eines Tages war er verschwunden und meldete sich später aus Karatschi in Pakistan. Doch nun sitzt er als "Bremer Taliban", wie die Presse ihn nennt, in jenem berüchtigten US-Gefangenenlager auf Kuba, das ihre jüngeren Söhne ihr erst im Internet zeigen müssen. Rabiye ist felsenfest überzeugt: Murat ist doch kein Terrorist! In ihrer Verzweiflung wendet sich die resolute Deutsch-Türkin an den Bremer Menschenrechtsanwalt Bernhard Docke, dem die Dimension des Falls schnell klar wird. Um Murat Kurnaz freizubekommen, braucht es nicht weniger als eine Verfassungsklage vor dem US-amerikanischen Supreme Court.
Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush erzählt nicht vom Leiden Murat Kurnaz‘, der als 19-Jähriger wenige Wochen nach den Anschlägen des 11. September 2001 nach Pakistan reiste und nach seiner Verhaftung wegen Terrorverdacht fünf Jahre lang in Guantánamo interniert war. In ihrer chronologischen Rekonstruktion der Ereignisse interessieren sich Regisseur Andreas Dresen und Drehbuchautorin Laila Stieler vielmehr für die Perspektive einer Mutter, die in einem juristischen "Niemandsland" – so bezeichnet Docke den militärrechtlichen "Sonderstatus" Guantánamos – um ihren Sohn kämpft. Die Dauer dieses Kampfs führen Inserts vor Augen, in denen die Tage von Murats Inhaftierung gezählt werden. Rabiye Kurnaz weiß nichts über Rechtsprechung. Über die komplexen juristischen und politischen Zusammenhänge des Falls, der im Deutschland dieser Jahre für einiges Aufsehen sorgte, wird sie – und mit ihr das Publikum – nach und nach von Anwalt Docke aufgeklärt. Er muss ihr auch schonend beibringen, dass ihr Sohn in dem Lager gefoltert wurde. Vor allem der starken Persönlichkeit der von Meltem Kaptan herausragend gespielten Hauptfigur ist es zu verdanken, dass dieser schwere Stoff Züge einer Feel-Good-Komödie annimmt.
Rabiyes Weltsicht ist geprägt von Optimismus und einem nahezu unerschütterlichen Sinn für Humor. Ihre flotten Sprüche ("Echt jetzt!") und ein rasanter Fahrstil mit dem Auto sind Zeichen ihres unbekümmerten Gemüts, mit dem sie auch die Pressemeute vor ihrer Haustür zu bändigen weiß: "Runter von meinen Schneeglöckchen!" Mit dem nüchternen Paragraphenmenschen Docke bildet sie ein klassisches odd couple, die perfekte Mischung aus Herz und Verstand. Über seine Figur wird das Publikum in eine deutsch-türkische Familie eingeführt, in der Mama das Sagen hat. In mehrjähriger Zusammenarbeit haben Dresen und Stieler (u.a. Stilles Land, 1992; Die Polizistin, 2000; Gundermann, 2018) ihre Fähigkeit bewiesen, sich glaubwürdig in die unterschiedlichsten Milieus einzufühlen und dabei jederzeit die Integrität der Figuren zu bewahren. Die genaue Schilderung der Lebensumstände ist auch darum wichtig, weil sich mit dem "Fall Kurnaz" eine innenpolitische Frage verbindet: Wer gehört dazu, wer nicht? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit die hiesige Politik sich auch für einen türkischen Staatsbürger wie den in Bremen geborenen Murat Kurnaz einsetzen muss?
Rabiyes Lebensfreude kann ihre Qualen als Mutter letztlich nicht verbergen. Gemeinsam mit Docke macht sie sich auf den Weg nach Washington, um Vertreter/-innen von Menschenrechtsorganisationen zu treffen und eine Petition einzureichen. Aber je größer die Hotelbetten werden, desto größer wird auch ihre Verzweiflung: An der Ungewissheit über das Schicksal ihres Sohnes, an den Jahren nutzlosen Wartens, aber auch an der diplomatischen Zurückhaltung der deutschen Regierung, die abwartet, bis auch noch Kurnaz‘ Aufenthaltsgenehmigung erlischt. Dresens Film ist ein starkes und auch wütendes Plädoyer für den Rechtsstaat, den wir uns, wie Docke erklärt, "zentimeterweise erkämpfen" müssen. Obwohl ihre Klage erfolgreich war und der für unschuldig befundene Kurnaz letztlich freikam, ist Guantánamo auch im Jahr 2022 immer noch nicht geschlossen.
Hier finden Sie ein Interview mit der Hauptdarstellerin Meltem Kaptan, eine Videoanalyse zum Thema "Humor im Film Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" sowie ein Arbeitsblatt für den Unterricht ab 9. Klasse.
Autor/in: Philipp Bühler, freier Filmjournalist und Redakteur, 27.04.2022