Hintergrund
Der "Loser" als Held im Kinder- und Jugendfilm
Jo aus
The Liverpool Goalie – oder: wie man die Schulzeit überlebt (Keeper'n til Liverpool, Arild Andresen, Norwegen 2010) hat Angst vor Unfällen, vor Fußball, dem stärkeren Tom-Erik und dem schönen neuen Mädchen in seiner Klasse. Auf den ersten Blick scheint er alles andere als ein Gewinnertyp zu sein, und doch schafft er es im Lauf des Films, über sich selbst hinauszuwachsen und zu sich selbst zu stehen. Damit reiht sich
The Liverpool Goalie in eine Riege von Kinder- und Jugendfilmen ein, deren Protagonisten/innen zunächst nicht zu den Starken zählen.
Antihelden - atypische Hauptfiguren einer Geschichte
Die Figur des - häufig jugendlichen - Außenseiters, der sich zum Helden wandelt, ist kein neues Phänomen, weder im Film noch in anderen Künsten. Als Gegenentwurf zum klassischen Helden, der – zum Beispiel im antiken Herakles-Mythos oder in modernen Superhelden-Comics wie
Superman – mit außergewöhnlichen Taten glänzt, zeichnet sich der Antiheld durch seine Schwächen aus. Gerade diese machen ihn sympathisch: Der Mix aus negativen und positiven Eigenschaften verweist auf reale Menschen und erlaubt Bezüge zur eigenen Person. Zu den berühmtesten und ältesten Antihelden gehören etwa die mittelalterliche Figur des Parzival, der erst nach vielen Fehltritten Gralskönig wurde, oder Cervantes' Don Quijote, selbsternannter "Ritter von der traurigen Gestalt". Aktuelle Beispiele, die fast jeder kennt, sind der ewige "Loser"
Donald Duck oder Wickie aus der gleichnamigen
Zeichentrickserie, der seine für Wikingerjungen untypische Ängstlichkeit und seinen zarten Körperbau mit Intelligenz wettmacht. Trotz ihrer Defizite stehen diese Figuren am Ende der Geschichten gut da – sei es, weil sie liebenswerte Narren abgeben, die zum Lachen über menschliche Schwächen oder starre Konventionen anstiften, sei es weil sie sich mit eigenen Tugenden und Talenten durchsetzen.
Herausforderung Schulalltag
Auch Jo aus
The Liverpool Goalie entspricht nicht dem in seinem Umfeld gängigen Bild eines erfolgreichen, gut aussehenden Teenagers – und meint schon dadurch aufzufallen. Er fühlt sich nicht wohl in seiner Haut und Tom-Eriks Demütigungen verunsichern ihn zusätzlich, so dass er sich bei Angriffen auf seine Persönlichkeit nicht zu verteidigen weiß. Ähnliche Probleme bestimmen viele weitere Kinder- und Jugendfilme, in denen der Schauplatz Schule eine wichtige Rolle spielt: In
Blöde Mütze (Johannes Schmid, 2007) macht sich der schüchterne Martin ausgerechnet beim coolen Oliver unbeliebt. Der von seiner Mutter vernachlässigte Tobias aus
Wer küsst schon einen Leguan? (Karola Hattop, 2003) wird als "Assi-Kind" sogar regelrecht gemobbt, ebenso der "Schwächling" Jimmy in
Es gibt nur einen Jimmy Grimble (There's Only One Jimmy Grimble John Hay, 2000) oder der wehrlose Autist Ben in
Ben X (Nic Balthazar, 2007). Nach der Familie bildet die Schule den Sozialisationsort Nummer Eins für junge Menschen. Hier müssen sie lernen, sich zu behaupten, speziell, wenn sie nicht zu den "Beliebten" zählen: Leistungsanforderungen sowie sozialem Druck standzuhalten, mit zwischenmenschlichen Spannungen umzugehen und oftmals die als peinlich empfundenen Gefühle rund um die erste Liebe durchzustehen.
Emanzipation von den Eltern
Aber auch das Elternhaus kann Grund für Verunsicherung sein. So hat Jo aus
The Liverpool Goalie die Ängste seiner Mutter übernommen und Tobias aus
Wer küsst schon einen Leguan? wird verspottet, weil seine Mutter ihm weder ordentliche Kleidung noch ein richtiges Zuhause bietet. Unter diesen Umständen ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, fällt schwer. Die Unterschätzung des eigenen Kindes oder die Reibung mit elterlichen Erwartungen sind ebenfalls Konflikte, die in Filmen immer wieder auftauchen. Die beiden britischen Filme
Billy Elliot - I Will Dance (Stephen Daldry, 2000) und
Kick it like Beckham (Gurinder Chadha, 2002) beleuchten dieses Thema am Beispiel des Sports. Der elfjährige Billy entdeckt sein Talent fürs Ballett. Für diese "unmännliche" Aktivität erntet er von seinem Vater Spott und Tanzverbot. In
Kick it like Beckham verheimlicht die indischstämmige Jess ihrer Familie, dass sie gerne und gut Fußball spielt. Mädchen und Fußball passen für die in den traditionellen Rollenmustern ihrer Heimat denkenden Eltern nicht zusammen. Billys und Jess' Beharrlichkeit – und nicht zuletzt ihrer sportlichen Begabung – ist es zu verdanken, dass sie die Familie schließlich überzeugen.
Den Mut fassen, man selbst zu sein
Obwohl die Probleme und Reaktionen darauf in den genannten Filmen verschieden ausfallen, helfen nur Ehrlichkeit, Mut und Selbstvertrauen wirklich weiter. Die Hauptfigur gerät jeweils in eine schwere Krise – mal selbstverschuldet, mal weil Widersacher Grenzen überschreiten. Der/die Protagonist/in muss über sich hinauswachsen, um die Situation zu lösen. Darüber erlangt er/sie Selbstbewusstsein und beeindruckt häufig nebenbei die erste große Liebe. In
The Liverpool Goalie begehrt Jo schließlich auf, als sich Tom-Eriks Gemeinheiten gegen seinen besten Freund Einar richten. Als es hart auf hart kommt, entscheidet sich Jess in
Kick it like Beckham gegen den Fußball und für die Familie. Am Ende zeigt ihr Vater Verständnis für die Leidenschaft seiner Tochter. Martin aus
Blöde Mütze steht selbstlos seinem Rivalen Oliver zur Seite, als dessen Familie zerbricht. In
Es gibt nur einen Jimmy Grimble bezwingt Jimmy trotz des Verlusts seiner "Glücksschuhe" die Angst vorm Versagen und lässt seine Spötter auf dem Fußballfeld alt aussehen. Und während in
Wer küsst schon einen Leguan? Tobias um seinen Nachbarn als Ersatzvater und eine bessere Zukunft kämpft, entwirft Ben in
Ben X mithilfe einer imaginären Freundin ein Szenario, in dem er gegen seine Peiniger vorgehen kann.
Lebensnahe Identifikationsfiguren
Mit der Botschaft, sich selbst treu zu bleiben und sich der eigenen Stärken bewusst zu werden, findet jede der Figuren einen Weg, Konflikten zu begegnen und Anerkennung zu erhalten. Indem sich die Filme gegen Anpassung und für Selbstbestimmung aussprechen, besitzen sie auch eine gesellschaftskritische Komponente. Als positive Fallbeispiele, wie Altersgenossen/innen mit den teils normalen, teils außergewöhnlichen Herausforderungen des Lebens umzugehen lernen, bieten sie sich als "Mutmacher" für Kinder und Jugendliche geradezu an. Wie typische Antihelden besitzen die Hauptfiguren schwache und starke Seiten. Durch ihre differenzierte Darstellung wirken sie besonders lebensnah. Sie leiden zudem, egal wie speziell ihre Lage sein mag, unter den üblichen Nöten von Heranwachsenden, mit denen sich ein junges Publikum gut identifizieren kann.
Autor/in: Marguerite Seidel, Autorin mit Schwerpunkt Film, 28.02.2012
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