Videoanalyse
Filmischer Realismus in Sorry We Missed You
Wie nur wenige Filmschaffende versteht es Ken Loach, mit seinen Sozialdramen den Eindruck von Wirklichkeitsnähe zu erwecken. Unsere Videoanalyse zu
Sorry We Missed You verdeutlicht, wie konsequent der britische Regie-Altmeister einen realistischen filmischen Ansatz verfolgt – sowohl bei der Entwicklung des
Drehbuchs und der Wahl der
Drehorte als auch bei der
Bildgestaltung und der Auswahl und Führung der Schauspieler/-innen.
Filmischer Realismus in Sorry We Missed You, Videoanalye (© kinofenster.de)
Im Folgenden können Sie die Videoanalyse auch im Textformat nachlesen:
Der britische Regisseur Ken Loach gilt als wichtiger Vertreter des filmischen Realismus. Was mit Realismus gemeint ist, schauen wir uns jetzt am Beispiel seines aktuellen Films an.
Allgemein formuliert, ist Realismus in einem Spielfilm die künstlerische Annäherung an Aspekte der realen Welt: zum Beispiel soziale Verhältnisse oder familiäre Konflikte.
Filmszene:
Ricky zu seinem Sohn: "Was ist denn jetzt nur los? Du warst doch früher immer gut in der Schule. Verbau dir doch nicht deine Zukunft, mein Junge!"“
Entscheidend ist dabei, dass die Form des Films eine realistische Wirkung erzielt. Drehbuch,
Inszenierung und Schauspiel müssen glaubwürdig und realitätsnah wirken. Dabei kommt es nicht zuletzt darauf an, was wir, das Publikum, als realistisch wahrnehmen.
Von der Recherche zum Drehbuch
Sorry we Missed You geht von einer realen gesellschaftlichen Entwicklung aus: Im Dienstleistungssektor haben sich die Arbeitsbedingungen drastisch verändert.
Der Protagonist Ricky arbeitet selbstständig als Zusteller für einen Paketdienst. Der Auftraggeber setzt ihm strenge Vorgaben. Stress und Überstunden gehören für Ricky zum Alltag.
Filmszene:
Vorgesetzter zu Ricky: "Das hier ist der Herzschlag des Depots: Das ist dein persönlicher Scanner, mit dem arbeitest du. Der ist wertvoll und verdammt teuer. Wenn du ihn verlierst, dann musst du ihn bezahlen."
Die Firma im Film ist fiktiv. Die Arbeit von Ricky deckt sich aber grundsätzlich mit der Realität eines Kurierfahrers. Ken Loach und sein Autor Paul Laverty haben vor der Arbeit am
Drehbuch lange recherchiert. Sie haben mit zahlreichen Zustellern gesprochen und deren Erfahrungen teilweise ins Drehbuch aufgenommen. Das Gleiche gilt für Abbys Rolle als Pflegerin.
Filmszene:
Abbie betritt das Haus einer Klientin: "Rosie? Rosie?!" ...
Das Drehbuch verdichtet diese Recherchen zu einer dramatischen Geschichte. Wir sollen Anteil daran nehmen, wie der berufliche Alltag von Ricky und Abbie den Zusammenhalt der Familie bedroht.
Realistische Inszenierung
Die
Szene im Depot ist charakteristisch für die
Inszenierung von Ken Loach: Der
Drehort ist ein Originalschauplatz, ein Gewerbegebiet in der Nähe von Newcastle. Die Kameraführung vermeidet einen auffälligen Stil. Nach einem kurzen Überblick über den Schauplatz bleibt sie auf
Augenhöhe und in
halbnaher Distanz zu den Protagonisten.
Die Bilder sind ausdrücklich keine schön komponierten Einstellungen: Manchmal laufen Leute durchs Bild oder sind angeschnitten im Hintergrund zu sehen. Dazu hören wir eine sogenannte
Atmo, also die atmosphärischen Hintergrundgeräusche eines Versandhandel-Depots.
Filmszene:
Vorgesetzter zu Ricky: "Also warte kurz auf mich, ich kümmere mich um die beiden Jungs und dann komm ich zu dir."
Unverständliche Gesprächsfetzen und Hintergrundgeräusche des Depots sind zu hören.
Es soll so wirken, als hätte jemand im normalen Betrieb kurzerhand eine Kamera aufgestellt. Genau diesen Effekt soll die Inszenierung hervorbringen.
Schauspiel
Ken Loach arbeitet bewusst nicht mit Stars zusammen. Statt dessen sucht er nach unbekannten Personen mit Talent vor der Kamera. Im besten Fall sind es Leute, die seinen Figuren ein Stück weit ähnlich sind. Die aus dem gleichen Milieu kommen und den Dialekt der Figuren sprechen.
Filmszene:
Ricky und Abbie liegen im Bett.
Ricky: "Hast du Erkältungssalbe drauf?"
Abby (lacht): "Nein, das reibe ich mir unter die Nase, sonst ertrage ich den furchtbaren Gestank nicht bei der Arbeit. Entschuldige!"
Kris Hitchen und Debbie Honeywood hatten zuvor kaum professionelle Schauspielerfahrung. Honeywood ist von Beruf Sozialarbeiterin. Hitchen war jahrelang als Klempner tätig. Im Film spielen sie fiktive Rollen. Aber sie bringen persönliche Hintergründe in den Film ein.
Wenn Hitchen als Ricky zum Beispiel über seine Herkunft, seinen Fußballclub und seine Berufserfahrungen spricht, erzählt er auch aus seinem eigenen Leben.
Solche authentischen Details können den Unterschied ausmachen. Ob wir einem Spielfilm glauben, dass er etwas Wahres über die reale Welt aussagt – oder eben nicht.
Autor/in: Jan-Philipp Kohlmann, Redakteur und freier Autor, 28.01.2020
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