Südfrankreich, 1798. In den Wäldern von Aveyron entdeckt eine Bäuerin einen etwa 10-jährigen, verwilderten Jungen, der offenbar ohne menschliche Betreuung aufgewachsen ist und weder sprechen noch aufrecht gehen kann. Er wird nach Paris gebracht, wo er in einem Institut für Taubstumme ein trauriges Dasein fristet. Während der Anstaltsleiter das Kind für schwachsinnig hält und es in eine Irrenanstalt überführen will, glaubt der Arzt Jean Itard, den Jungen erziehen zu können, und holt ihn zu sich in sein Haus. Unermüdlich unterrichtet er dort das Kind, das er Victor tauft. Trotz vieler Misserfolge gelingt es Itard, Victor die Bedeutung einiger geschriebener Wörter zu vermitteln und sein Gerechtigkeitsempfinden zu wecken.
Ungewöhnlich für Kinoproduktionen der frühen 1970er-Jahre, wurde
Der Wolfsjunge von François Truffaut in
Schwarz-Weiß inszeniert, was dem in
ruhigen Bildern eingefangenen Geschehen eine dokumentarische Natürlichkeit verleiht. Der Blick der Kamera konzentriert sich dabei auf Victor und seinen Lehrer, der den Lernprozess des Jungen im Voice-Over kommentiert. Außer Itards Stimme und zwei pointiert eingespielten
Vivaldi-Stücken prägen nicht zuletzt
Ab- und Aufblenden das bedächtige Tempo des Films. Als zusätzliches strukturierendes Element setzte Truffaut Irisblenden ein – ein weiteres anachronistisches Stilmittel, das vor allem in der Stummfilmära Anwendung fand. Der Regisseur nutzte es nicht nur, um seinen Film optisch altern zu lassen, sondern auch, um seine Arbeit als Autor zu markieren: Truffaut, der selbst in die Rolle Itards schlüpfte, schuf mit
Der Wolfsjunge tatsächlich ein sehr persönliches Werk, das zahlreiche autobiografische Bezüge aufweist. Er selbst galt in seiner Jugend als schwer erziehbar und verbrachte einige Zeit in Heimen.
Es gibt wohl keinen zweiten Kinofilm, der das schwierige Erlernen und Lehren der Sprache so anschaulich zeigt wie Truffauts Werk
Der Wolfsjunge, das auf den Aufzeichnungen von Jean Itard basiert. Besonders interessant ist dabei, dass Truffaut die Unterrichtung des wilden Jungen mit der essenziellen Frage verknüpft, was den Menschen letztlich zum Menschen macht. Für den schulischen Einsatz bietet sich der Film zudem in Hinsicht auf pädagogische Fragestellungen an, zumal im historischen Kontext der 1968er-Bewegung, die sich gegen autoritäre Erziehungsmodelle und deren Ausrichtung auf bürgerliche Werte wandte. Truffauts Film ergreift hier keineswegs eindeutig Partei und gibt auch keine Antworten, sondern stellt vielmehr Erziehungsziele und -methoden zur Diskussion.
Autor/in: Jörn Hetebrügge, 02.06.2015
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