Die fränkische Kleinstadt Lichtenberg ist der
Schauplatz eines der aufsehenerregendsten Kriminalfälle der bundesdeutschen Geschichte. Am 7. Mai 2001 verschwand dort die neunjährige Peggy Knobloch spurlos auf dem Heimweg von der Schule. Hunderte Einsatzkräfte beteiligten sich an der Suche nach dem Mädchen, Helikopter und Bundeswehr-Tornados überflogen die Region, jahrelang ermittelte die Polizei. Peggys sterbliche Überreste wurden erst 2016 zufällig in einem Waldstück in Thüringen entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt war Ulvi Kulac, ein Anwohner, für den Mord an Peggy zunächst verurteilt – und in einem Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen worden. Weitere Personen gerieten unter Verdacht, doch mangels Indizien wurden die Ermittlungen im Oktober 2020 eingestellt. Die dokumentarische TV-Serie
Höllental zeichnet die wendungsreiche Chronologie dieses Falls nach. Von der Polizeiarbeit über das enorme Medieninteresse bis zur juristischen Aufarbeitung zeigt sie, wie das Ereignis den Mikrokosmos Lichtenberg nachhaltig verändert.
Der düstere Titel
Höllental – benannt nach der Landschaft am Rande der Stadt – könnte eine reißerische Darstellung befürchten lassen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die sechsteilige Serie von Marie Wilke (
Aggregat) bleibt sachlich präzise und formal streng, spekuliert nicht über die Grausamkeit des Verbrechens, hält Abstand zum Leid der betroffenen Familie. Auf emotionalisierende Reenactments, ein typisches True-Crime-Stilmittel, wird verzichtet. Zeitzeugen-Interviews mit beteiligten Personen aus dem Ort sowie aus Polizei, Justiz und Medien tragen die Erzählung. Abseits der
Talking Heads ist die Bildebene jedoch menschenleer: immer wieder Stillleben des ehemaligen Hauses der Knoblochs, der mutmaßlichen Tatorte in Lichtenberg, des Frankenwalds. Über diese Bilder, oft
Drohnenaufnahmen, wird ein minimalistischer Synthesizer-
Score gelegt:
Sounddesign für eine ungelöste Spurensuche mit vielen falschen Fährten – darunter auch die Annahme, es gäbe eine Verbindung zum NSU-Komplex.
Zwischen die selbstgedrehten Aufnahmen sind historische Quellen
montiert: Polizeiakten, als Voice-Over eingesprochen vom Filmemacher Thomas Heise, TV-Beiträge mit Peggys Mutter auf einer Pressekonferenz während der Fahndung, Boulevardschlagzeilen über das Opfer und den mutmaßlichen Täter. Anhand dieser Quellen lässt sich im Unterricht über Polizei- und Medienethik diskutieren. Durch die formale Analyse von
Höllental können Schüler/-innen eine kritische Perspektive auf das True-Crime-
Genre entwickeln. Bezüglich des Falls werfen die Episoden 2 und 3 Fragen zur Ermittlung und Verurteilung von Ulvi Kulac auf. Der geistig behinderte Mann hatte gestanden, Peggy und andere Kinder aus Lichtenberg sexuell missbraucht zu haben. Sein von der Polizei mit einer Kamera aufgezeichnetes Mord-Geständnis, scheint aber durch unlautere Verhörmethoden beeinflusst. Welche Wirkung die
Sequenz als Cliffhanger der zweiten Folge erzielt und ob es problematisch ist, das Video in die Serie einzubetten, kann im Plenum diskutiert werden.
Höllental beleuchtet hier ein komplexes Fallbeispiel, mit dem sich Rechte, Pflichten und ethische Maßstäbe im Strafrechtssystem vermitteln lassen.
Arbeitsblatt zur Serie Höllental
Fächer: Deutsch, Psychologie, Philosophie ab Oberstufe, ab 16 Jahren
Vor der Sichtung der ersten Folge:
a) Tauschen Sie sich darüber aus, welche True-Crime-Formate Sie bereits aus dem Kino, Fernsehen und/oder von VoD-Kanälen kennen.
b) Welche filmästhetischen Werkzeuge (beispielsweise
Bildkomposition,
Montage, Voice-Over) und erzählerischen Mittel (unter anderem Interviews mit Beteiligten, Reenactments) prägen diese Formate?
c) Diskutieren Sie, welches Ziel die Ausstrahlung der meisten True-Crime-Formate verfolgt.
d) Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse mit den ersten drei Absätzen des
Blog-Eintrags der Medienwissenschaftlerin Christiane Radeke, die im Bereich Jugendschutz fürs Fernsehen tätig ist.
e)
Höllental ist eine True-Crime-Serie, die die Ermittlungen im Mordfall Peggy Knobloch nachzeichnet. Informieren Sie sich auf der
Webseite des Bayerischen Rundfunks über die Chronologie der Ereignisse.
f) Hören Sie sich das
Radio-Interview mit der Regisseurin Marie Wilke zu ihrer Serie
Höllental an.
Geben Sie anschließend in eigenen Worten wieder
• was die Intention der Regisseurin ist
• warum sie das Format der Serie gewählt hat
• was sie über eine mögliche Aufklärung des Mordes an Peggy Knobloch denkt.
g) Formulieren Sie Ihre Erwartungen an die Serie
Höllental. Gehen Sie insbesondere auf die filmästhetischen und erzählerischen Mittel ein.
h) Sehen Sie sich die ersten Minuten der
ersten Episode an. Gehen Sie auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Ihren Erwartungen ein. Analysieren Sie die filmästhetischen Mittel und ihre Wirkung.
TC 00:00:00-00:08:28
Während der Sichtung der ersten Folge:
i) Sehen Sie die erste Folge nun bis zum Ende an. Tauschen Sie sich anschließend über Ihre Sichtungseindrücke aus: Was hat Sie besonders überrascht und/oder berührt? Welche Wirkung hat das Erzähltempo auf Sie?
Während der Sichtung der weiteren Folgen:
j) Sehen Sie sich die weiteren Folgen an. Halten Sie Ihre Eindrücke in einem Sichtungs-Tagebuch (vorzugsweise in Form einer Datei) fest. Notieren Sie
• Fragen, die sich Ihnen während der Sichtung stellen
• aus Ihrer Sicht bemerkenswerte Wendungen in der Ermittlungsarbeit
• die Rolle der Medien während der Ermittlungsarbeit
• den Umgang der Polizei mit Verdächtigen
• wie die Serie Spannung erzeugt
• inwiefern Höllental Sensationslust (nicht) bedient
• bemerkenswerte filmästhetische Mittel und ihre Wirkung
Nach der Seriensichtung:
k) Stellen Sie Ihre Sichtungseindrücke im Plenum vor und/oder teilen Sie Ihre Eindrücke digital (beispielsweise mithilfe von
Google Docs,
edupad.ch,
zumpad.zum.de oder vergleichbaren digitalen Tools). Tauschen Sie sich darüber aus, was Sie an der Serie besonders gelungen fanden und diskutieren Sie Aspekte, die für Sie problematisch sind.
l) Notieren Sie Fragen, die Sie nach Sichtung der Serie gern Regisseurin Marie Wilke stellen würden und die im Deutschlandfunk-Interview noch nicht angesprochen wurden.
m) Formulieren Sie eine Filmkritik (als Text, Podcast oder Videoblog) zu
Höllental, in der sie auf folgende Aspekte eingehen:
• den realen Fall (Aufgabe e))
• filmästhetische und erzählerische Mittel (Aufgabe h) und i))
• Kritik an der medialen Aufarbeitung und der polizeilichen Kommunikation von Ermittlungsergebnissen sowie dem Umgang der Polizei mit Verdächtigen (Aufgabe j))
• der Einordnung von Höllental in das Genre True Crime (Aufgaben b)-d))
• offene Fragen (Aufgabe l))
Autor/in: Jan-Philipp Kohlmann (Besprechung), Ronald Ehlert-Klein (Arbeitsblatt), 11.01.2021
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