Eben noch bekämpft der neunjährige Buddy mit Holzschwert und Mülleimerdeckel in seiner Fantasiewelt das Böse, da verwandelt sich seine Umgebung jäh in ein reales Schlachtfeld. Es ist der 15. August 1969 in der nordirischen Hauptstadt Belfast; der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten eskaliert in offener Gewalt. Die "Troubles" werden existenzielle Auswirkungen für Buddys Familie haben – davon erzählt
Belfast, mit dem der 1960 dort geborene Regisseur Kenneth Branagh in die eigene Vergangenheit eintaucht. Er bündelt seine Erinnerungen zu einer berührenden Hommage an diese Stadt, ihre Bewohner/-innen und die eigene Familie, die 1969 nach England auswanderte.
Arbeiterviertel als Ort der sozialen Utopie
Buddys Wohnviertel ist anfangs bevölkert von ausgelassen spielenden Kindern und plaudernden Nachbarn. Alle kennen sich, alle halten zusammen: Das Arbeiterviertel wirkt wie die Manifestation einer sozialen Utopie. Buddys protestantische Familie ist von gesundem Urvertrauen und Fürsorge durchdrungen. Besonders die Großeltern sorgen für Halt und erklären den Enkeln humorvoll die Welt. Während Buddys Mutter die beiden Söhne erzieht, ist der Vater nur jedes zweite Wochenende präsent. Er arbeitet in England, wo es noch Arbeit für den hoch verschuldeten Zimmermann gibt.
Wer in Buddys Straße protestantisch oder katholisch ist, hat bislang zumindest für die Kinder keine große Rolle gespielt. Doch nun will eine Gruppe militanter Protestanten/-innen mit Gewalt die katholischen Familien aus ihren Häusern vertreiben. Billy, Anführer des Mobs, fordert von seinen protestantischen Nachbarn Unterstützung und Loyalität und wird zum Kontrahenten von Buddys Vater, der seine Mitmenschen nicht nach Konfessionszugehörigkeit beurteilt. Die Front verläuft vor der eigenen Haustür: Nach den Krawallen werden Barrikaden zum Schutz errichtet, Soldaten kontrollieren Pässe, nachts schieben besorgte Nachbarn Wache.
Sehnsuchtsort in Schwarz-Weiß
Kenneth Branagh hat seinen Film in Schwarz-Weiß gefilmt. Allerdings beginnt und endet
Belfast mit
farbigen Aufnahmen, die wie aus einem Imagefilm für die nordirische Hauptstadt wirken.
Flugaufnahmen zeigen das heutige Stadtbild: moderne Architektur, der große Hafen, zeitgenössische Kunst, herausgeputzte Reihenhäuschen und Sehenswürdigkeiten. Darunter auch ein Wandgemälde auf einer Friedensmauer. Sie trennte einst probritische Unionisten und irische Nationalisten. Genau hier gleitet
Belfast zurück in das Jahr 1969 und zugleich ins Schwarz-Weiß. Dieses Stilmittel überhöht das Arbeiterviertel mit seinen kargen Reihenhäusern geradezu, das im Gegensatz zu den zuvor menschenleeren Stadtansichten voller Leben ist. In der zärtlichen Wiederauferstehung des weitgehend verschwundenen proletarischen Milieus wird das alte Belfast zu einem Sehnsuchtsort.
Für Farbe – im Film wie auch im Leben der Familie – sorgen Kino- und Theaterbesuche, die Buddy mit seiner Familie unternimmt: Sie sehen "A Christmas Carol" auf der Bühne oder
Tschitti Tschitti Bäng Bäng (USA, GB 1968) und
Eine Million Jahre vor unserer Zeit (GB 1966) auf der Leinwand. Diese wirkungsvollen Farbakzente verdeutlichen, wie prägend diese kleinen Alltagsfluchten für Buddy sind. Im Fernsehen wiederum sieht er in Schwarz-Weiß
Western wie
Zwölf Uhr mittags (USA 1952), die mit ihrer klaren Definition von Gut und Böse zur Identitätsbildung des Jungen beitragen. Wenn sich sein Vater und Billy in einer höchstdramatischen
Szene auf der Straße gegenüberstehen,
inszeniert Branagh dies als klassisches Western-Duell: Der Vater gewinnt in
Untersicht und in Buddys Wahrnehmung an superheldenhafter Größe, als er spektakulär seine Familie aus den Fängen des Bösen befreit.
Der Nordirland-Konflikt mit den Augen eines Kindes
Mit seiner nostalgisch-heiteren Grundstimmung beschwört
Belfast eine Kindheit, die auch in schweren Zeiten mit all ihren Herausforderungen, Entscheidungen und einer ersten Verliebtheit ihre unbeschwerten Momente hat. So feinfühlig und hinterfragend Buddy auch ist, von Politik und Konfessionen versteht er noch wenig. Woran erkennt man, ob jemand katholisch oder protestantisch ist, will er wissen. Die Erwachsenen antworten oft vage, um den Jungen von der Brutalität des Bürgerkrieges abzuschirmen. Daher puzzelt sich Buddy seine Weltsicht aus Nachrichten, den flammenden Predigten des Pfarrers und Gesprächsfetzen zusammen, sammelt Lebenserfahrung im Kino und vor dem Fernseher und krönt das Ganze mit den Weisheiten seines Opas.

Buddy ist fraglos die idealisierte Verkörperung des jungen Kenneth Branagh. Seine Sicht vermittelt die Ereignisse, ohne Erklärung ihrer politischen Dimension. Sein Belfast entspricht dem Erlebnisradius eines Neunjährigen: Wohnviertel, Schule, Kirche, Spielplatz, Krankenhaus und Geschäfte. Da dieses Setting im heutigen Belfast kaum mehr existiert, wurde Buddys Wohnstraße im englischen Hampshire nachgebaut und mit
Requisiten aus den späten 1960ern ausgestattet, darunter auch Buddys geliebtes "Thor"-Comic, das sich als interessante Chiffre entpuppt. Denn Branagh, vor allem für seine Shakespeare-
Verfilmungen bekannt, führte auch Regie bei der Marvel-Comic-Adaption
Thor (USA 2011), die dessen Verbannung aus Asgard in den nordischen Sagen aufgreift – dem Vorläufer der biblischen Vertreibung aus dem Paradies.
Parallelen dazu finden sich auch in
Belfast: Ihr Wohnviertel und die engen sozialen Bindungen bedeuten Buddy und seiner Mutter schlichtweg alles. Doch finanziell kommt die Familie wie viele andere im Nordirland der Zeit kaum über die Runden. Australien, Kanada, England – hartnäckig will Buddys Vater seine Frau zum Auswandern überreden. Doch sie und Buddy schrecken vor drohender Entwurzelung und dem damit verbundenen Identitätsverlust zurück. Letztlich beschleunigen die "Troubles" ihre Emigration – ein für alle schmerzhafter Schritt, der neben ökonomischen Verbesserungen vor allem Sicherheit und das Überleben ihrer Wertmaßstäbe bedeutet.
Autor/in: Cristina Moles Kaupp, Filmjournalistin und Publizistin, 22.02.2022
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