Es ist Sommer. Die Kirschbäume hängen voller Früchte im von Wald und Feldern umgebenen Heimatdorf von Kyona und ihrem Bruder Adriel, als sich das Leben der Geschwister schlagartig ändert. Bewaffnete Bauern und Milizkämpfer überfallen und verwüsten den kleinen Ort, zwingen die Menschen zur Flucht. So beschließen auch die Eltern der beiden Kinder, mit ihnen die Heimat zu verlassen. Doch bereits im Zug wird die Familie auseinandergerissen. Kyona und Adriel sind von nun an allein auf einer gefährlichen Reise ins Ungewisse, die so schnell kein Ende nehmen wird. Dem von ihrem Vater genannten Fluchtziel entgegen, legen die Zwei zu Fuß Kilometer um Kilometer zurück, überqueren Berge und Grenzen. Sie fahren über das das Meer, verlieren sich und finden sich wieder. Sie treffen auf Menschen, von denen sie ausgebeutet und betrogen werden, aber auch auf solche, die ihnen helfen und Unterschlupf gewähren. Manche Weggefährt/-innen werden zu Freund/-innen, andere für eine Zeit lang sogar zu einer Ersatzfamilie. Vor allem aber ihr geschwisterlicher Zusammenhalt bietet ihnen Schutz und trägt sie. Dennoch beginnt ihre naive Unerschrockenheit nach und nach zu weichen. In den Begegnungen mit anderen Verfolgten wird Kyona und Adriel bewusst, dass ihre Kindheit von der Flucht verschluckt wurde – wie das Leben so vieler Menschen überall auf der Welt, die wegen Krieg, Verfolgung und Unterdrückung ihr Zuhause verloren haben.

Poetische Visualisierung von Flucht und Vertreibung

"Die Odyssee" ist der weltweit erste abendfüllende Zum Inhalt: Animationsfilm in der sogenannten Zum externen Inhalt: Öl-auf-Glas-Technik (öffnet im neuen Tab). Über zehn Jahre lang hat Regisseurin Florence Miailhe mit ihrem Team daran gearbeitet und mit Malereien auf übereinanderliegenden Glasplatten einen durch ihre Familiengeschichte inspirierten Film über Migration gestaltet. Aufgerollt wird die Handlung in einer Rückblendenerzählung (Glossar: Zum Inhalt: Zum Inhalt: Rückblende/Vorausblende): Ausgehend von Zeichnungen aus ihrem Skizzenbuch blickt Kyona als alte Frau auf ihr Leben zurück und nimmt das Publikum mit in ihre Kindheit und auf die abenteuerliche Flucht mit ihrem Bruder Adriel. Die Geschichte der beiden Kinder knüpft an verschiedene Kriegs- und Vertreibungsereignisse an, weckt Assoziationen zu realen Orten und Konflikten – etwa zur Shoah, zu den Kriegen in Bosnien und Syrien oder aktuell auch zu den Flüchtenden aus der Ukraine, aber auch zur Flucht vor den Folgen des Klimawandels oder vor der Armut und dem Terror in Teilen Afrikas. Ganz bewusst wird die Handlung jedoch nicht in einem konkreten Land oder zu einer bestimmten Zeit verortet, sondern eine märchenhafte Erzählung über Migration als globales, die Menschheitsgeschichte durchziehendes Geschehen aufgespannt.

 Grandfilm

Gewidmet hat Miailhe den Film ihrer Großmutter, die 1905 vor Pogromen in Odessa geflohen ist, aber auch allen, die ihr Land verlassen müssen, um anderswo eine bessere Zukunft zu finden. Der universelle Charakter des Erzählten findet dabei fortwährend Widerhall in der filmischen Form. Über Kyonas Skizzenbuch greifen Realitätsverweise und Fiktionalisierung, Historien- und Gegenwartsbezug ineinander. Die ruhige Erzählstimme (Glossar: Zum Inhalt: Voiceover) – im Deutschen gesprochen von Hanna Schygulla – unterstreicht das Märchenhafte. In den fließenden Glasmalereien kommt die Flüchtigkeit der Momente, das schwer Greifbare des Geschehens zum Ausdruck. Verschwommene Konturen heben die Übertragbarkeit der Bilder hervor: Durch sich bewegende Pinselstriche laufen Formen und Farben ineinander, löst sich eine Zum Inhalt: Szene in der nächsten auf. Die Farbigkeit (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung) der Kleidung und Schauplätze oder die feinen Nuancierungen in den Gesichtern der Figuren, die stets Schwarz-Weiß gehalten sind, machen die Intensität und Komplexität der Fluchterfahrung spürbar.

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Ein märchenhaftes Zum Inhalt: Roadmovie

Als Held/-innen dieser berührenden Geschichte müssen die beiden Geschwister über Nacht Verantwortung füreinander tragen und das Gestern hinter sich lassen. Über die Orte, die sie auf ihrer Odyssee passieren, werden verschiedene Notsituationen von minderjährigen Flüchtenden thematisiert – wie das Leben auf den Straßen einer fremden Stadt, der Überlebenskampf unter freiem Himmel in der Natur, das Ausgeliefertsein gegenüber Menschenhändlern oder auch Gewalt und Unterdrückung in Lagern, in denen Verfolgte wie Sträflinge interniert werden. Auf ihrer erzwungenen Reise durch alle Jahreszeiten hindurch müssen Kyona und Adriel lernen, wem sie vertrauen können und wem nicht: Als die Geschwister an das kinderlose Paar della Chiusa verkauft werden, begreift Kyona schnell, dass sie sich aus dessen Fängen befreien müssen. Skeptisch bleibt sie bei dem einfühlsamen Iskender, in den sie sich verliebt, der aber als "Zwischenhändler" Straßenkinder ausnutzt, flüchtende Jugendliche in die Fänge von Menschenhändlern treibt und so eine Gefahr für sie ist. Andere stellen sich schützend vor die beiden – wie die alte Frau in der "Hexenhütte", bei der Kyona den Winter über Schutz findet oder die "Madame" vom Wanderzirkus, der den beiden Jugendlichen einige Zeit Unterschlupf bietet. Um die Zwei vor einer Festnahme zu bewahren, bestechen die Akrobatinnen sogar Soldaten an Straßensperren mit sexuellen Diensten. Manche Menschen treffen Kyona und Adriel mehrmals, andere sehen sie nie wieder. Jede Begegnung hinterlässt Spuren, verändert den Blick der Geschwister auf sich, die Menschheit und die Welt. Und so erschließt sich auch den Zuschauenden von Szene zu Szene immer mehr das Ausmaß ihrer Flucht. Und immer deutlicher zeichnet sich ab, dass die Odyssee auch mit dem Überwinden der letzten Grenze noch nicht zu Ende ist.

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