Im Alter von 21 Jahren beschließt der englische Musiker Mark Reeder, seiner Heimatstadt Manchester den Rücken zu kehren. Aufgrund seiner Vorliebe für deutsche Elektronik-Acts wie Tangerine Dream und Klaus Schulze zieht es ihn Ende der 1970er-Jahre nach West-Berlin, wo er in besetzten Häusern lebt und die Anfänge einer Szene zwischen Post-Punk und bildender Kunst miterlebt. Reeder wird zum Zeugen dieser Subkultur. Der Dokumentarfilm von Jörg A. Hoppe, Klaus Maeck und Heiko Lange beschreibt aus seiner persönlichen Erfahrung das Klima in der Mauerstadt zwischen Endzeitstimmung und trotzigem Hedonismus. In diesem einmaligen Soziotop entwarfen Punks und Künstler, geniale Dilletanten (sic!) und Anarchisten eine gesellschaftliche Utopie abseits der bürgerlichen Norm. Sie pendelten zwischen Proberäumen, Ateliers, Clubs und Partys, die weit bis in den nächsten Tag gingen.
B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979-1989 erzählt anhand von historischen Film-, Video- und Super-8-Aufnahmen, zusammengetragen aus den Privatarchiven der damaligen Protagonisten, sowie Filmen von Wolfgang Müller und Jörg Buttgereit die Geschichte der West-Berliner Subkultur in den 1980er-Jahren. In chronologischer Reihenfolge
montieren die Regisseure Konzertmitschnitte und bisher unveröffentlichtes Videomaterial von Szene-Größen wie Blixa Bargeld, Gudrun Gut oder Nick Cave. Mark Reeders Voice-Over-Kommentare pointieren die Bilder, bisweilen auch ironisch, und liefern Hintergrundinformationen zur Szene und zu politischen Ereignissen jener Jahre. Im Mittelpunkt steht jedoch die Musik, in Form von Live-Mitschnitten aus dem Club SO36 sowie zahlreichen Stücken, mit denen die Bilder unterlegt sind. Der
Soundtrack schlägt einen Bogen vom Post-Punk der Bands Malaria und Einstürzende Neubauten über die Neue Deutsche Welle (Nena) bis hin zu Techno (Westbam) und zeichnet somit auch die Entwicklung der westdeutschen Jugendkultur in den 1980er-Jahren nach.
B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979-1989, Trailer (© Interzone)
Obwohl sich die Filmemacher vorwiegend auf die Subkultur West-Berlins konzentrieren, streift ihr Dokumentarfilm viel Zeitgeschichte und erläutert am Rande auch den politischen Status der Stadt. So zeigt der Film etwa die berühmte Rede von US-Präsident Reagan, der den sowjetischen Staatspräsidenten Gorbatschow vor dem Brandenburger Tor auffordert, die Mauer niederzureißen. In diesem Spannungsfeld von Politik und Kunst kann die West-Berliner Kunstszene noch einmal näher betrachtet und in den gesellschaftlichen und politischen Kontext der alten Bundesrepublik gestellt werden. Hier empfiehlt sich ein Vergleich mit dem Dokumentarfilm
ostPunk! too much future, der die alternative Szene in Ost-Berlin vorstellt, allerdings mit Zeitzeugeninterviews in Form von
Talking Heads und wenig Archivmaterial einen anderen ästhetischen Zugang wählt.
B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979-1989 lädt aber auch dazu ein, im Rahmen des Deutsch-Unterrichts das Genre des Dokumentarfilms kritisch zu beleuchten. Ein Vergleich der unterschiedlichen Bildquellen bietet sich ebenso an wie Mark Reeders Rolle als subjektiver Erzähler. Darüber hinaus ist eine Analyse der Filmsprache aufschlussreich. Wenn Jugendliche und Künstler darüber berichten, wie sie die Nacht zum Tag machten, werden Club-Atmosphäre und tagelanger Schlafentzug durch hektische
Sequenzen unterstrichen, die der Ästhetik des Videoclips nachempfunden sind.
Autor/in: Ronald Ehlert-Klein, 20.05.2015
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