Martina Priessner arbeitet seit mehr als 20 Jahren als freie Filmemacherin und Autorin. Mit "Die Wächterin" (DE 2020) gewann sie den Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts. Fünf Jahre lebte die studierte Sozial- und Kulturwissenschaftlerin in Istanbul. Die Türkei und die Erfahrungen türkeistämmiger Menschen in Deutschland bilden einen thematischen Schwerpunkt ihrer Arbeit. Für ihren neuen Film "Die Möllner Briefe" besuchte sie die Überlebenden der rechtsextremistischen Brandanschläge von 1992.

kinofenster.de: Was hat für Sie den Ausschlag gegeben, einen Dokumentarfilm mit den Überlebenden der Mordanschläge von Mölln zu drehen?
Martina Priessner: Mit rassistischer Gewalt und vor allem mit ihren Opfern beschäftige ich mich schon sehr lange. Entscheidend war für mich die Begegnung mit İbrahim, meinem Protagonisten (Anmerkung der Redaktion: İbrahim Arslan hat die Anschläge als 7-Jähriger überlebt). Ich habe ihn 2020 bei einer Kinovorführung von Mala Reinhardts Zum Inhalt: Dokumentarfilm "Der zweite Anschlag" (DE 2019) kennengelernt, an dem er auch schon mitgewirkt hat. Wir haben uns im Anschluss lange unterhalten, und dabei hat er mir von dem Zufallsfund der Briefe im Möllner Stadtarchiv erzählt. Mir war sehr schnell klar: Darüber möchte ich einen Film drehen.

kinofenster.de: Viele Filme über rechtsextremistische Gewalt konzentrieren sich auf die Täter. In "Die Möllner Briefe" stellen Sie dagegen die Perspektive der Betroffenen in den Mittelpunkt.
Martina Priessner: Es gibt – nicht nur in Filmen – eine starke Fokussierung auf die Täter. Ich will gar nicht bestreiten, dass die Auseinandersetzung mit den Täterbiografien wichtig ist. Aber ich kann nicht begreifen, warum in so vielen Filmen über rassistischen Terror kaum Opfer zu Wort kommen. İbrahim hat einmal zu mir gesagt: "Weißt Du, unsere größte Sehnsucht ist es, unsere Geschichten zu erzählen – weil das Trauma so ein bisschen leichter wird." Das hat mich in meiner Überzeugung bestätigt, wie sehr die Perspektive der Opfer fehlt. Ich bin überzeugt, dass die breite Kenntnis ihrer Geschichten unverzichtbar ist für ein empathisches und solidarisches Miteinander in unserer Gesellschaft. Mit meiner Arbeit sehe ich mich als Verbündete der Betroffenen.

kinofenster.de: Im Film kritisieren Überlebende der Anschläge, dass sie bei der offiziellen jährlichen Gedenkveranstaltung in Mölln wie Statist/-innen behandelt werden. Welche Herangehensweise haben Sie verfolgt – gerade auch angesichts dieser Erfahrungen der Betroffenen?
Martina Priessner: Für mich war es elementar, dass ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis besteht. Darum habe ich unter anderem darauf geachtet, dass möglichst viele im Filmteam auch eine Einwanderungsgeschichte haben und daher eine besondere Sensibilität für das Thema Rassismus mitbringen. Hilfreich dafür war sicher auch, dass ich selbst türkisch spreche. Vor allem war natürlich İbrahims Hilfe unverzichtbar: Er ist ja nicht nur im Film zu sehen, sondern hat uns auch in die Familie eingeführt und den Kontakt zu weiteren Betroffenen hergestellt. Dass seine Geschwister Namık und Yeliz und ihre Mutter Hava sich so vor der Kamera geöffnet haben, wäre ohne ihn undenkbar gewesen. Ich habe allen auch von vorneherein zugesichert, dass keine Aufnahmen von ihnen im Film ohne ihre Zustimmung verwendet werden. Nach der Fertigstellung habe ich mir den Film von den mitwirkenden Familien freigeben lassen.

kinofenster.de: Hatten Sie erwogen, in ihrem Film auch andere Perspektiven als die der Opfer zu zeigen?
Martina Priessner: Der aktuelle Bürgermeister von Mölln und der Stadtarchivar kommen ja im Film mehrfach zu Wort. Ich hatte gleich zu Beginn auch beim ehemaligen Bürgermeister, der zur Zeit der Anschläge 1992 im Amt war, angefragt, ob er zu einem Gespräch bereit sei. Er hat das aber abgelehnt.

kinofenster.de: Haben Sie den Eindruck, dass aufgrund der Filmarbeiten in Mölln bei den Behörden ein Umdenken hinsichtlich des Gedenkens und des Umgangs mit den Briefen eingesetzt hat?
Martina Priessner: Die Frage ist schwer zu beantworten. Einerseits waren der Bürgermeister und der Archivar bereit, vor der Kamera zu stehen. Andererseits ist schon im Film zu erkennen, dass der Bürgermeister seine Absichtserklärung, mit den Betroffenen transparent und auf Augenhöhe zusammenzuwirken, bislang allenfalls teilweise einlöst. Insofern würde ich sagen: Warten wir die weitere Entwicklung ab.

kinofenster.de: Welche Rückmeldungen haben Sie von den mitwirkenden Familien bekommen – jetzt, da der Film in der Welt ist?
Martina Priessner: Ich stehe im Augenblick ja fast täglich in Kontakt mit İbrahim und seiner Familie. Interessant finde ich, dass die Mitarbeit am Film offenbar gerade bei Yeliz und Namık einen Aufarbeitungsprozess ausgelöst hat, der über das Projekt hinausreicht. Das bedeutet nicht, dass sie sich nun wie ihr Bruder aktivistisch engagieren – dieser Prozess ist bei jedem individuell ganz unterschiedlich. Klar ist, dass der Film für die Betroffenen angesichts der traumatischen Erfahrungen keinen Abschluss bedeuten kann. Denn eine Heilung gibt es für sie nicht.

kinofenster.de: Wie reagiert das Publikum auf Ihren Film?
Martina Priessner: Ich habe den Eindruck, dass der Film aktivierend wirken kann. Gerade jüngere Leute aus Familien mit Einwanderungsgeschichte berichten im Anschluss an die Vorstellungen, dass ihre Eltern und Großeltern bisher von sich aus kaum etwas über ihre Erfahrungen nach ihrer Ankunft in Deutschland erzählt haben – und dass der Film sie ermutigt, in der Familie nachzufragen.

kinofenster.de: Warum ist Filmbildung aus Ihrer Sicht wichtig?
Martina Priessner: Filmbildung ist extrem wichtig, weil Filme Empathie wecken können. Sie lassen uns erleben, wie es ist, in einer anderen Haut zu stecken, mit Angst oder Ausgrenzung zu leben. Gerade bei Themen wie Rassismus oder rechter Gewalt berühren Bilder oft tiefer als Worte. Schüler/-innen lernen so, nicht nur Informationen aufzunehmen, sondern mitzufühlen, hinzusehen, Haltung zu entwickeln. In einer Gesellschaft, die so stark gespalten wird, brauchen wir genau diese Fähigkeit: sich in andere hineinzuversetzen, die eigene Position zu reflektieren und Verantwortung zu übernehmen. Darum gehört Filmbildung unbedingt auch in die Schulen.