Kategorie: Interview
""Shoah" ist ein Zeitzeugenfilm"
Prof. Dr. Markus Köster, Leiter des LWL-Medienzentrums für Westfalen, erklärt im Interview, was "Shoah "von anderen Filmen über den Holocaust unterscheidet und warum Regisseur Claude Lanzmann keine Schockbilder verwendete.
Prof. Dr. Markus Köster ist seit 2002 Leiter des LWL-Medienzentrums für Westfalen. Dort fördert er mit FILM+SCHULE NRW gezielt die digitale Filmkompetenz von Schüler/-innen im Fachunterricht und am außerschulischen Lernort Kino. Stellvertretend leitet er die Medienberatung NRW und hält seit 2012 eine Honorarprofessur am Lehrstuhl für Neuere und Neuste Geschichte an der Universität Münster.
kinofenster.de: Wann beginnt die filmische Auseinandersetzung mit dem Holocaust?
Markus Köster: Bei der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager 1945 dokumentierten Kameraleute der Alliierten die Orte der Verbrechen. Die Intention war dafür primär, Beweise für die Kriegsverbrechensprozesse festzuhalten. Ebenso sollte den Deutschen ihre Schuld vor Augen geführt werden, beispielsweise mit Formaten wie den "Wochenschauen" im Kino, in denen Aufnahmen von Leichen, aber auch Berge von Brillen, Schmuck und Zähnen gezeigt wurden. Schnell kristallisierte sich jedoch heraus, dass die Schockpädagogik nicht funktionierte , weil die Menschen mit Abwehr reagierten. Einen neuen Anlauf stellte der Zum Inhalt: Dokumentarfilm Zum Filmarchiv: "Nacht und Nebel" dar, mit der Musik von Hanns Eisler. Es dauert dann aber noch einmal fast 25 Jahre, bis die US-Fernsehserie "Zum externen Inhalt: Holocaust (öffnet im neuen Tab)" ausgestrahlt wurde. Sie ist aufgrund der Fiktionalisierung und der TV-Dramaturgie nicht unumstritten. Aber sie führt vor Augen, was es für einzelne Menschen bedeutete, in den Vernichtungsmechanismus zu geraten. Zum Filmarchiv: "Schindlers Liste" ist ebenfalls bedeutsam, weil der Film das Überleben und einen deutschen Unterstützer in den Mittelpunkt stellt und sich stark an dokumentarischen Bildern orientiert.
kinofenster.de: Inwieweit hebt sich Zum Filmarchiv: "Shoah" von anderen dokumentarischen Formaten wie "Nacht und Nebel" ab?
Markus Köster: Claude Lanzmann lehnte jegliche Form der Fiktionalisierung in Bezug auf den Holocaust ab. Er kritisierte die TV-Serie "Holocaust" wie auch später "Schindlers Liste". Er lehnte übrigens auch Archivmaterial aus den Lagern ab, weil es sich dabei um eine Inszenierung aus Täterperspektive handele. Was setzt er diesem Bilderverbot entgegen? "Shoah" ist ein Zeitzeugenfilm. Im Fokus steht die intensive Befragung von Opfern, aber ebenso Tätern. Seine Interviewtechnik, das unbedingte Insistieren auf Antworten und damit verbundene Szenen des Reenactments, sind für Zuschauende schwer erträglich und aus heutiger Sicht nicht unproblematisch: Man befürchtet eine Retraumatisierung bei den ehemaligen Lagerinsassen. Dafür mietete er in Israel für Abraham Bomba, einen ehemaligen Insassen, der vor der Gaskammer als Friseur arbeiten musste, einen Salon an und ließ ihn Haare schneiden. Die Aufnahmen der Zum Inhalt: Originalschauplätze, die längst von Grün überwuchert sind, knüpfen wiederum an vergleichbare Einstellungen in "Nacht und Nebel "an.
kinofenster.de: Wie ordnen Sie Lanzmanns Herangehensweise ein?
Markus Köster: Sie unterscheidet sich von der Oral History, einer Methode der Geschichtswissenschaft, bei der Zeitzeugen zu bestimmten Ereignissen befragt, aber von den Interviewenden so wenig wie möglich beeinflusst werden. Sie halten sich im Hintergrund – ganz anders agiert Lanzmann in "Shoah". Es geht ihm weniger um das Einzelschicksal, sondern um den Zeugnischarakter. Lanzmann ist Teil der Interviewsituation: In manchen Einstellungen ist er sichtbar und macht transparent, wie die Situation zustande kommt, auch wie er die Menschen zwingt, sich zu erinnern. Er entschuldigt sich sogar für sein Vorgehen. Sein Ziel ist es, die Erinnerung unbedingt festzuhalten.
kinofenster.de: Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sehen Sie zu den Schockbildern, die Sie eingangs erwähnten?
Markus Köster: Erst einmal die Gemeinsamkeit: Beides wirkt überwältigend. Wir können die Darstellung der Leichenberge nicht rational verarbeiten, aber ebenso wenig, dass einzelne Menschen vom Grauen berichten und dabei zusammenbrechen. Lanzmann legt dieses Grauen in die Erinnerung der Einzelnen und nicht in die Aussagekraft von monströsen Bildern. Diese individuellen Zeugnisse berühren intensiver. Bei Schockbildern besteht die Gefahr, dass die Rezipierenden irgendwann abstumpfen.
kinofenster.de: Wie wurde der Film in Deutschland rezipiert?
Markus Köster: Er lief 1986 bei der Berlinale und später im Fernsehen, schließlich fungierten der Westdeutsche Rundfunk und das französische Fernsehen als Koproduzenten. Die Einschaltquoten waren jedoch ausgesprochen niedrig, sodass die Resonanz nicht mit der Serie Holocaust vergleichbar war. Die Filmwissenschaftlerin Sonja Schultz sagte einmal sinngemäß, "Shoah" sei der meist zitierte, aber wahrscheinlich am wenigsten gesehene Dokumentarfilm über den Holocaust. Das hängt natürlich auch mit der Länge von neuneinhalb Stunden zusammen.
kinofenster.de: Wie lässt sich mit dieser Länge im Unterricht arbeiten?
Markus Köster: Ich denke, es ist legitim, mit Ausschnitten zu arbeiten. Ihre Wirkung ist sehr intensiv. Wir müssen uns vor Augen halten, welch wichtige Quelle der Film darstellt. Die darin auftretenden Zeitzeugen sind mittlerweile alle tot. Ein weiterer bedeutsamer Aspekt im Film ist die Täterschaft. Die Täter entlarven sich in den Gesprächen selbst, wenn sie regelrecht stolz den technischen Ablauf der Massenmorde rekonstruieren. Sie besitzen auch Jahrzehnte später keinerlei Unrechtsbewusstsein.
kinofenster.de: Inwieweit sollte der historische Hintergrund zur Entstehungszeit von "Shoah" in den 1970er- und 1980er-Jahren mitvermittelt werden?
Markus Köster: In der Geschichtswissenschaft gehen wir davon aus, dass ein Film eine Quelle für die Untersuchung der Zeit darstellt, in der er entstanden ist. Bei "Shoah" mag das für die Technik gelten: Die Mikrofonanlagen wurden aufwändig in Fahrzeugen versteckt, das ließe sich heute mit einem Knopfmikro oder sogar einem Handy einfacher lösen. Lanzmanns moralischer Rigorismus wiederum lässt sich aus seiner Biografie herleiten. Er erlebte als Enkel jüdischer Einwanderer aus Osteuropa Antisemitismus und schloss sich bereits als 18-Jähriger der französischen Zum externen Inhalt: Résistance (öffnet im neuen Tab) an. Seine Fragetechnik unterscheidet sich von der, die wir heute anwenden würden. Nichtsdestotrotz besitzt der Film mit seinen intensiven Zeitzeugeninterviews einen unschätzbaren, zeitlosen Wert.
kinofenster.de: Was kann Film generell für die Erinnerungskultur leisten?
Markus Köster: Es gibt Bilder ohne Geschichte, aber keine Geschichte ohne Bilder. Wenn diese nicht existieren, werden sie durch unseren Kopf konstruiert. Film bietet diese Bilder und ist somit ein starkes Moment der historischen Erinnerung. Bilder können jedoch Erinnerung überformen, was der Sozialpsychologe Harald Welzer nachgewiesen hat: Zeitzeugen glauben sich bisweilen an Ereignisse zu erinnern, weil sie diese in Zum Inhalt: Spielfilmen gesehen haben. Das ist ein wichtiger Punkt in der Geschichts- und ebenso in der Medienkompetenzvermittlung. Wir müssen mit allen Quellen kritisch umgehen. Das lässt sich jungen Menschen anschaulich erklären: Wenn sie am Strand ein Selfie machen, wählen sie einen bestimmten Bildausschnitt, der den Mülleimer im Hintergrund ausblendet. Und so müssen wir Medien sehen lernen. Sie sind Ausschnitte. Teile eines größeren Bildes.