Jeder Mensch ist einzigartig. Dennoch werden Empfindungen und Verhaltensweisen, die von gesellschaftlichen Normen abweichen, noch immer stigmatisiert und missverstanden. Auch Menschen im Autismus-Spektrum sind oft betroffen. Ein besseres Verständnis für Autismus und eine offenere Haltung den Menschen mit Autismus gegenüber entwickeln sich erst seit Kurzem. Dazu beigetragen hat das Buch Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann. Ein autistischer Junge erklärt seine Welt, das 2007 in Japan erschienen ist. Es ist ein autobiografisches Zeugnis der Erfahrungen seines jugendlichen Autors Naoki Higashida, der nonverbal ist, also nicht flüssig spricht und – wie viele Menschen mit Autismus – sehr sensibel auf Umweltreize reagiert, die in ihrer Fülle ungefiltert auf ihn einwirken. Auf Higashidas Text aufbauend entwickelte Regisseur Jerry Rothwell seinen gleichnamigen Zum Inhalt: Dokumentarfilm. Wie schon die literarische Vorlage versucht der Film, einem neurotypischen Publikum Neurodiversität begreifbar zu machen (zum Begriff "neurotypisch": Zum externen Inhalt: neurotypisch-spektrum.ch (öffnet im neuen Tab)).

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Neurodiversität begreifbar machen

Rothwell nimmt Higashidas Text als Ausgangspunkt und dramaturgischen roten Faden. Im Zum Inhalt: Voiceover gelesene Passagen aus dem Buch beschreiben die Wahrnehmungs- und Gefühlswelt des Autors. Das Publikum wird direkt angesprochen und zu einem Perspektivwechsel eingeladen. Higashida selbst wollte nicht filmisch porträtiert werden. An seiner Stelle begleitet der Film fünf autistische Kinder und Jugendliche aus aller Welt, die wie der Autor starke sprachliche Einschränkungen haben.

Amrit aus Indien hält ihren Alltag in ausdrucksstarken, selbst gemalten Bildern fest, aus denen ihre Mutter lesen kann, wie es ihrer Tochter geht und was sie erlebt hat. Joss aus England begeistert sich für Licht, Wasser und das Summen von Verteilerkästen, das für ihn wie Musik klingt. Ben und Emma aus den USA sind seit ihrer Kindheit befreundet und verstehen sich ohne Worte. Mit ihren Familien und in der Schule kommunizieren sie über Buchstabentafeln. Jestina aus Sierra Leone mag kräftige Farben. Ihr wird mit besonders viel Ablehnung begegnet, denn in ihrer sozialen Umgebung ist noch der Aberglaube verbreitet, Menschen wie sie seien besessen. Ihre Eltern engagieren sich deshalb für die Aufklärung über Autismus – in Selbsthilfegruppen, durch Öffentlichkeitsarbeit und mit der Gründung einer Schule für autistische Kinder.

Auch die anderen Eltern sowie der Übersetzer der Buchvorlage, selbst Vater eines autistischen Jungen, kommen zu Wort: In meist klassischen Interviewsituationen (Glosssar: Zum Inhalt: Talking Heads) erzählen sie aus ihrer Perspektive vom Alltag mit autistischen Kindern und dem unbedingten Willen, sie zu verstehen und eine gemeinsame Welt zu teilen. Es sind emotionale Gespräche, die von Frustration und Aggression der Kinder berichten, von der Sorge um sie und ihren Platz in einer für Neurotypische ausgelegten Welt, aber ebenso von ihrer Freude und ihren Erfolgen. Beide Pole vermitteln sich auch in den beobachtenden Zum Inhalt: Szenen. Strukturiert und kommentiert werden die Porträts durch Higashidas Worte im Voiceover. Eine visuelle Repräsentation findet der Autor zudem in zwischengeschnittenen Szenen, in denen ein japanisches Kind verschiedene Landschaften erkundet.

Eine filmische Annäherung an die Wahrnehmung der Jugendlichen

Bemerkenswert ist der Versuch, mit filmischen Mitteln eine Annäherung an die Wahrnehmungsmodi der jungen Menschen mit Autismus und ihre sensorische Empfindsamkeit, die schnell in überwältigende Reizüberflutung kippen kann, zu transportieren. Nahaufnahmen (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) fangen Details ein, aus denen sich ihre Welt aufbaut – Seifenblasen, eine Bleistiftspitze, Raupen auf einem Baumstamm. Kurze Einstellungen geben subjektive Eindrücke wieder. Gleichzeitig beobachtet die Kamera die Jugendlichen sehr zurückhaltend und respektiert ihren eigenen Raum. Ein Zeiterleben, in dem Vergangenes und Gegenwärtiges ineinanderfließen, wird vermittelt, wenn sich im Zum Inhalt: Schnitt Kinderbilder mit aktuellen Aufnahmen mischen und so ein Gefühl von Gleichzeitigkeit entsteht. Für die Tonebene wurde ein 360-Grad-Sound (Glossar: Zum Inhalt: Tongestaltung/Sound-Design) aufgenommen. Geräusche erscheinen ungefiltert, einige wurden verstärkt, gedämpft oder neu vertont. Quietschende Sprungfedern oder das Geräusch von Regentropfen treten so in den Vordergrund. Ein instrumentaler Soundtrack (Glossar: Zum Inhalt: Filmmusik) begleitet den Film und unterstreicht die sensorische Fülle, wirkt zuweilen allerdings eher emotionalisierend.

Der Regisseur selbst ist neurotypisch, arbeitete jedoch mit einem Beirat autistischer Menschen und einem inklusiven Filmteam, um den Betroffenen gerecht zu werden. Wie wichtig eine inklusive Herangehensweise ist, betont auch Ben im Film: "I think we can change the conversation around autism by being part of the conversation." Zwar bleibt die Perspektive eingeschränkt, denn Rothwell zeigt kein umfassendes Bild der Ausprägungen und Auswirkungen von Autismus. Zudem werden ausschließlich gut situierte Familien porträtiert, die ihren Kindern die bestmögliche Betreuung bieten können. Dennoch gelingt es dem Film, seine Kernbotschaft überzeugend zu vermitteln: Die Gesellschaft muss sich öffnen, um allen Menschen in ihrer Neurodiversität einen Platz zu geben und Gemeinsamkeit zu schaffen. Sie kann dabei nur gewinnen. Denn auch wenn eine Person nicht spricht, heißt das nicht, dass sie nichts zu sagen hat.

Der Text ist lizenziert nach der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Germany License.

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